5. Der Leser:

„ich bin, was Du nicht sein kannst“

We tend to read fiction as if it were history.

M 33

Die dritte Konstituente des literarischen Kommunikationsaktes ist der Leser. Unter ‚dem Leser‘ wird im Folgenden nach Martinez und Scheffel eine neutrale Bezeichnung „für eine Rolle“ verstanden, „die auf ganz verschiedene Weise ausgefüllt werden kann“ (EE 85). Leser meint also einen neutralen narrativen Adressaten. Der Einbezug des Lesers ist für die Betrachtung metafiktionaler Aspekte eines Textes unter anderem deswegen von Bedeutung, da das Lesen „als eine vom Text gelenkte Aktivität […] den Verarbeitungsprozeß des Textes als Wirkung auf den Leser zurück[koppelt].“154 Das Verständnis von der Rolle des Lesers ist epochenspezifisch, wie Iser herausstellt:

Wurde dem Leser im Roman des 18. Jahrhunderts durch das Gespräch, das der Autor mit ihm führte, eine explizite Rolle zugewiesen, damit er – bald durch sie, bald gegen sie – je nach der im Text wirksamen Steuerung die menschliche Natur und den Zugang zur Wirklichkeit zu konstituieren vermochte, so schwindet im Roman des 19. Jahrhunderts vielfach eine solche, dem Text eingezeichnete Rollenzuweisung. Statt dessen soll der Leser selbst seine Rolle entdecken, die er ständig von den sozialen Normen zugewiesen erhält, um dadurch in ein kritisches Verhältnis zu den gesellschaftlichen Zwängen zu gelangen. Damit aber der Leser diese Rolle entdeckt, darf ihm der Roman selbst keine zuweisen. Folglich komplizieren sich die Textstrategien, da sie nun den Leser ungleich indirekter und verhohlener auf die ihm zugedachte Entdeckung lenken müssen. Dieser Vorgang kompliziert sich noch einmal im Roman des 20. Jahrhunderts, wo sich die Entdeckung auf das Funktionieren unserer Fähigkeiten bezieht. Der Leser soll sich der Art seines Wahrnehmens, der Form seiner passiven Synthesen zum Herstellen von Konsistenz, ja des Funktionierens seiner Reflexion bewußt werden.155

In der Vermessung der Welt wird ein impliziter Leser an der „Konkretisierung des Werks“ (MR 57) beteiligt. Wie sich bereits gezeigt hat, verzichtet der Erzähler nicht von vornherein auf eine Strukturierung des Textes, wodurch die Beziehung von Realität und Fiktion als gegeben vorausgesetzt wird und der Text somit bereits potenziell metafiktional sein kann. Im Sinne Zimmermanns handelt es sich bei dem Einsatz von Lesertypen, die direkt angesprochen werden oder die Rolle des Lesers oder Zuhörers einnehmen, um explizite Metafiktion, um implizite Metafiktion handelt es sich, wenn ein implizit in den Text inkorporierter Leser vorliegt. In der Vermessung wird der Leser nicht direkt adressiert, sondern durch den Bruch mit Konventionen oder das Ausmachen der den Text konstituierenden Elemente gefordert, oder seine Erwartungen werden durch verschiedene Strukturen enttäuscht. In der Vermessung wird der Leser auf verschiedene Weise gefordert: Zum einen wird punktuell von der fast durchgängig verwendeten indirekten Rede, also vom Konjunktiv, in den Indikativ gewechselt, und durch die fehlenden Markierungen durch Satzzeichen können einige Aussagen im Indikativ so doppelt gelesen werden. Zum anderen werden neben unerwarteten Wendungen auch Lesesituationen und Zukunftsprognosen in die Handlung eingebettet, die mehrfach metafiktional sind. Da die vorliegende Arbeit nicht zum Ziel hat, ‚den‘ Leser zu modellieren und nicht überprüfbar ist, ob jeder Leser an denselben Stellen über Metafiktionalität nachdenkt, wird im Folgenden untersucht, welche Verfahren der Text nutzt, um den Leser einzubinden und um ihn zu fordern, über Fiktionalität und Geschichte zu reflektieren. Dabei stehen also nicht die Wirkungen bei dem einzelnen Leser im Vordergrund, sondern die Verfahren des Textes.

5.1    Doppelte Kommunikation

Die Erzählung zeichnet sich durch einen fast sachlich-neutralen Ton aus, es finden sich immer wieder aber auch verschiedenste Erzählerkommentare, die deutlich wertend sind. Dem Leser wird dabei zunächst keine explizite Rolle zugewiesen, er wird weder explizit angesprochen noch als Leser oder Zuhörer benannt. Die Vermessung zeichnet sich allerdings auch nicht durch neue und außergewöhnliche Strukturen aus, was eine implizite metafiktionale Strategie wäre. Nichtsdestoweniger wird der Leser einbezogen und gefordert. Ein besonderes stilistisches Merkmal der Erzählung ist der seltene Wechsel vom Konjunktiv der indirekten Rede zum Indikativ Präsens, der es vor allem aufgrund der fehlenden verba dicendi punktuell darauf anlegt, den Leser gleichsam persönlich anzusprechen. Der Wechsel in den Indikativ tritt vermehrt in den Briefen zwischen Humboldt und seinem Bruder auf, aber auch in der Gedankenübertragung von Gauß und Humboldt. Legt der Kontext zwar gewöhnlich nahe, welche Figur spricht, können einige Aussagen jedoch als gleichsam direkte Kommunikation mit dem Leser verstanden werden. Letztlich dienen eben jene Passagen dazu, den Leser kurzzeitig zu irritieren, durchbrechen sicherlich auch bisherige Erwartungen an den Text, die Kommunikation in indirekter Rede stattfinden zu lassen, aber sie regen auch in expliziter Weise dazu an, bestimmte Themen zu reflektieren.

Zum ersten Mal wechselt die indirekte in direkte Rede bereits im zweiten Kapitel, „Das Meer“. Es liegt innerhalb des Rahmens und des Rückblicks auf die Vorgeschichte von Humboldt und Gauß. Während das Kapitel einleitend mit der Kindheit von Humboldt beginnt und die Beziehung zwischen ihm und seinem Bruder thematisiert, erfährt der Leser im Laufe des Kapitels von Humboldts Entschluss zu reisen: „Er wisse nun, sagte er zu Kunth, womit er sich befassen wolle. […] Er wolle das Leben erforschen, die seltsame Hartnäckigkeit verstehen, mit der es den Globus umspanne. Er wolle ihm auf die Schliche kommen!“ (V 26) Während Humboldt bei Wildenow an der Universität in Frankfurt an der Oder studiert, wechselt sein älterer Bruder an die Universität Göttingen. Nach dem Studium als Assessor beim Berg- und Hüttendepartement (vgl. V 31) angestellt, führt er zunächst nebenbei Versuche an seinem eigenen Körper durch, deren Ergebnis „die Abhandlung über die lebendige Muskelfaser als leitenden Substanz“ ist, die „Humboldts wissenschaftlichen Ruf [begründete].“ (V 33) Als Reaktion darauf erhält Humboldt einen Brief von seinem Bruder aus Jena – warum und wie er nach Jena gekommen ist, lässt der Erzähler an dieser Stelle offen:

Er scheine verwirrt zu sein, schrieb sein Bruder aus Jena. Doch möge er bedenken, daß man moralische Verpflichtungen auch dem eigenen Körper gegenüber habe, der doch kein Ding unter Dingen sei; ich bitte Dich, komm! Schiller möchte dich kennenlernen.

Du verkennst mich, antwortete Humboldt. Ich habe herausgefunden, daß der Mensch bereit ist, Unbill zu erfahren, aber viel Erkenntnis entgeht ihm, weil er den Schmerz fürchtet. Wer sich jedoch zum Schmerz entschließt, begreift Dinge, die er nicht… Er legte die Feder weg, rieb sich die Schulter und zerknüllte das Blatt. Unsere Brüderlichkeit, begann er von neuem, wieso erscheint sie mir als das eigentliche Rätsel? Daß wir allein sind und verdoppelt, daß Du bist, was ich nicht werden soll, und ich bin, was Du nicht sein kannst, daß wir zu zweit durchs Dasein müssen, einander, ob wir wollen oder nicht, für immer näher als jedem anderen. Und wieso vermute ich, daß unsere Größe folgenlos bleiben und, was wir auch vollbringen, dahinschwinden wird, als wäre es nichts, bis unsere gegeneinander gewachsenen Namen, wieder zu einem verschmolzen, verblassen werden? Er stockte, dann zerriß er das Blatt in winzige Fetzen.

V 33f.

Der Wechsel in den Indikativ Präsens bewirkt nicht nur eine Präsenz von Subjektivität sowie unvermittelte Unmittelbarkeit, die der Text sonst nur durch Zeit- und Lokaladverbien aufweist. Aufgrund der fehlenden Anführungszeichen liegt hierin ein Moment der Verunsicherung des Lesers, da mit „du“ eine direkte Ansprache vorliegt. Somit wird der Leser gleichsam in die Rolle des Adressaten versetzt – obgleich dieser zunächst der Bruder sein sollte, ist er es doch nicht, da Humboldt „das Blatt [zerknüllte]“, „dann zerriß er das Blatt in winzige Fetzen.“ (V 34) Erst viel später, im fünfzehnten und somit vorletzten Kapitel, „Die Steppe“, wird dieselbe Thematik in einer längeren Passage vom Bruder selbst erneut aufgegriffen:

Niemand, sagte Humboldt, habe eine Bestimmung. Man entschließe sich nur, eine vorzutäuschen, bis man es irgendwann selbst glaube. Doch so vieles passe nicht dazu, man müsse sich entsetzliche Gewalt antun.

Der Ältere lehnte sich zurück und sah ihn lange an. Immer noch die Knaben?

Das hast du gewußt?

Immer.

Lange sprach keiner von ihnen, dann stand Humboldt auf, und sie umarmten einander so förmlich wie stets.

Sehen wir uns wieder?

Sicher. Im Fleische oder im Licht.

V 264

Daheim lagen zwei Briefe. Einer des älteren Bruders, der sich für Besuch und Beistand bedankte. Ob wir uns wiedersehen oder nicht, jetzt sind es wieder, wie im Grunde immer schon, nur wir beide. Man hat uns früh eingeschärft, daß ein Leben Publikum benötigt. Beide meinten wir, das unsere sei die ganze Welt. Nach und nach wurden die Kreise kleiner, und wir mußten begreifen, daß das eigentliche Ziel unserer Bemühungen nicht der Kosmos, sondern bloß der andere war. Deinetwegen wollte ich Minister werden, meinetwegen mußtest Du auf den höchsten Berg und in die Höhlen, für Dich habe ich die beste Universität erfunden, für mich hast Du Südamerika entdeckt, und nur Dummköpfen, die nicht verstehen, was ein Leben in Verdoppelung bedeutet, würde dafür das Wort Rivalität einfallen: Weil es Dich gab, mußte ich Lehrer eines Staates, weil ich existierte, hattest Du der Erforscher eines Weltteils zu werden, alles andere wäre nicht angemessen gewesen. Und für diese Angemessenheit hatten wir immer das sicherste Gespür. Ich ersuche Dich, diesen Brief nicht mit dem Rest unserer Korrespondenz auf die Zukunft kommen zu lassen, auch wenn Du, wie Du mir gesagt hast, von der Zukunft nichts mehr hältst.

V 265

Diesmal ist Humboldt der intendierte Adressat, und diesmal wird der Leser in seine Rolle versetzt. In den drei miteinander verknüpften Passagen werden verschiedene Themen aufgegriffen. Zunächst einmal geht es um die Brüder und ihre Beziehung selbst. Obgleich Humboldt seinen Brief nie abschickt, greift sein Bruder dasselbe Thema der Verdoppelung in ähnlichen Worten auf. Diese Verdoppelung wird jedoch nicht nur benannt, sondern tritt auch strukturell auf, indem das Thema doppelt, von beiden Brüdern, aufgegriffen wird. Mit der Betrachtung der Brüderlichkeit hängen auch Überlegungen zur Bildung zusammen, denn die Leben, die sie führen, sind stark beeinflusst von einem Streben nach Ruhm. Während Humboldt befürchtet, seine individuellen Leistungen würden stets mit denen seines Bruders verknüpft sein, erkennt der Bruder diese Bedingtheit an. Gleichzeitig jedoch versteckt sich in des Bruders Brief eine Aussage, die als metafiktional gelesen werden kann: „nur Dummköpfen […] würde dafür das Wort Rivalität einfallen“ (V 265), heißt es. Damit wird möglichen Interpretationen der Beziehung der Brüder vorgegriffen, die sich vor allem aufgrund der versuchten Vergiftung (vgl. V 21), des Einsperrens im Schrank (vgl. V 21) oder der zunächst unterlassenen Hilfe (vgl. V 25) aufdrängt. In Bezug zu Humboldts geschildertem Vermessungs- und Wissensdrang („[m]an wolle wissen, sagte Humboldt, weil man wissen wolle“, V 70) kann hierin eine Kritik nicht nur am Wissenschaftsbetrieb, aber auch an der Ausbildung der Brüder gelesen werden, denn sie „mußten begreifen, daß das eigentliche Ziel unserer Bemühungen nicht der Kosmos, sondern bloß der andere war“ (V 265).

Durch das Gespräch der Brüder ergibt jedoch auch erst Humboldts Schreiben über Schmerz einen Sinn. Er schreibt: „Wer sich jedoch zum Schmerz entschließt, begreift Dinge, die er nicht…“ (V 33) Der Satz wird nicht beendet, scheint sich jedoch auf die Anspielung des Bruders auf eine mögliche homosexuelle Neigung Humboldts zu beziehen: „Doch so vieles passe nicht dazu, man müsse sich entsetzliche Gewalt antun. Der Ältere lehnte sich zurück und sah ihn lange an. Immer noch die Knaben? Das hast du gewußt? Immer.“ (V 264) Wird bei Humboldt eine homosexuelle Neigung angenommen, werden andere Passagen erst verständlich. Nicht nur droht Humboldt Bonpland mehrfach, die Zusammenarbeit zu beenden, wenn sich Bonpland der Vergnügung mit Frauen hingibt (vgl. V 48), auch in Neuandalusien wird eine Begegnung mit Inés geschildert, einem jungen Mädchen, das vom Gouverneur geschickt wurde. Während sie „geschickt seine Hose [öffnete]“ (V 76), „fragte [er] sich, wieso sie nicht begriff, daß er in der Hölle war.“ (V 76) Kurz darauf findet eine ähnliche Begegnung statt:

Ein Geräusch weckte ihn. Jemand war hereingekrochen und hatte sich neben ihn gelegt. Nicht schon wieder, murmelte er, entzündete mit unsicherer Hand den Kerzendocht und sah, daß es ein kleiner Junge war. Was willst denn du, fragte er, was ist denn, was soll das?

Was denn, fragte Humboldt, was? […]

Aber was denn, flüsterte Humboldt. Was, Kind?

V 125f.

Humboldts ohnehin schon offensichtliche Nervosität steigert sich so sehr, dass sein Körper zu zittern beginnt: „Humboldts Hand zitterte so stark, daß er die Kerze fallen ließ.“ (V 126) Anschließend tritt er den Jungen, bis er sich nicht mehr bewegt, „packte ihn an den Schultern und zerrte ihn hinaus.“ (V 126) Wie diese Textstelle verdeutlicht, scheint sich Humboldt nicht mit seiner Neigung auseinanderzusetzen.

Abgesehen von der Aufdeckung von Humboldts latenter Homosexualität und den damit zusammenhängenden rückblickenden Erklärungen für sein Verhalten zu anderen Gelegenheiten, lassen sich Auszüge aus den Briefen fast wie vom Erzähler an den Leser gerichtet lesen; sie können also doppelt gelesen werden. Wenn es heißt, „meinetwegen mußtest Du auf den höchsten Berg und in die Höhlen“, oder „für mich hast Du Südamerika entdeckt“ (V 265), so kann dies gleichsam als direkte Kommunikation des Erzählers mit dem Leser gedeutet werden. Schließlich fehlen nicht nur markierende Satzzeichen, letztlich werden alle Begebenheiten in der Vermessung durch den Erzähler vermittelt und mit seinen Worten erzählt; so ist der Leser den Figuren auf den Berg und in die Höhlen durch Südamerika gefolgt und hat die Handlung mit den Figuren nachvollzogen.

Doppelt gelesen werden kann so auch eine andere Passage des Texts. Vor der Küste Trinidads – es ist vermeintlich Trinidad, denn auch hier löst der Erzähler nicht auf, ob Humboldt mit seiner Vermutung, es sei Trinidad, tatsächlich Recht behält –, befindet sich Humboldt wieder in einer Schreibsituation:

Noch im Boot, das sie in Richtung des träge vor ihnen schaukelnden Festlands trug, begann er seinem Bruder von der hellen Luft, dem warmen Wind, den Kokosbäumen und Flamingos zu schreiben. Ich weiß nicht, wann dies eintreffen wird, doch sieh zu, daß Du es in die Zeitung bekommst. Die Welt soll von mir erfahren. Ich müßte mich sehr irren, wenn ich ihr gleichgültig bin.

V 51

Die letzten drei Sätze lassen sich nicht nur als Wunsch eines Entdeckers, zu Ruhm zu gelangen, lesen, sondern könnten ebenso von einem Erzähler, oder aber Schriftsteller stammen. Viel später wird ein verwandtes Thema aufgegriffen, das immer wieder nebenbei aufkommt: der Tod.

Was, meine Damen und Herren, ist der Tod? Im Grunde nicht erst das Verlöschen und die Sekunden des Übergangs, sondern schon das lange Nachlassen davor, jene sich über Jahre dehnende Erschlaffung; die Zeit, in der ein Mensch noch da ist und zugleich nicht mehr und in der er, ist auch seine Größe lange dahin, noch vorgeben kann, es gäbe ihn. So umsichtig, meine Damen und Herren, hat die Natur unser Sterben eingerichtet!

V 263

Das Kapitel „Die Steppe“ beginnt unvermittelt mit dieser Frage und der direkten Anrede. Hierbei wird der Leser nicht nur erneut dazu angeregt, über den Tod zu reflektieren, sondern wird gleichsam in die Situation des Zuhörers eines Vortrags versetzt. Durch die persönliche Anrede, die äußerst selten in der Vermessung genutzt wird, wird auf besondere Weise auf eines der Themen der Erzählung hingewiesen, denn derartige Passagen irritieren den Leser kurzzeitig wegen ihres Wechsels in den Indikativ. Gleichzeitig verdeutlicht der Indikativ die Aktualität und Zeitlosigkeit der angesprochenen Thematik, und durch das „unser“ wird eine Verbindung zwischen Leser und den Figuren hergestellt.

Zuletzt werden die direkten Anreden und die Verwendung des Indikativs eindeutig mit metafiktionalen Aussagen und Überlegungen zur Wissenschaft verknüpft:

Gerede und Geschwätz, flüsterte Humboldt in Ehrenbergs Ohr, keine Wissenschaft. Er müsse Gauß unbedingt sagen, daß er jetzt besser verstehe.

Ich weiß, daß Sie verstehen, antwortete Gauß. Sie haben immer verstanden, armer Freund, mehr, als Sie wußten. […] Also hat er mich doch nach all den Jahren überflügelt, sagte er, und ihm war, als antwortete nicht Minna, sondern der bereits in einer Schnellkutsche nach Sankt Petersburg rasende Humboldt: Die Dinge sind, wie sie sind, und wenn wir sie erkennen, sind sie genauso, wie wenn es andere tun oder keiner. […] Hastig versicherte Humboldt, er habe nur gesagt, man dürfe die Leistungen des Wissenschaftlers nicht überschätzen, der Forscher sei kein Schöpfer, er erfinde nichts, er gewinne kein Land, er ziehe keine Frucht, weder säe noch ernte er, und ihm folgten andere, die mehr, und wieder andere, die noch mehr wüßten, bis schließlich alles wieder versinke.

V 290f.

Während Humboldt in Moskau kurz davor steht, eine Rede über den Erdmagnetismus zu halten, befindet sich Gauß zuhause mit seiner Frau Minna. Trotzdem scheinen die Figuren miteinander über große Distanz zu kommunizieren. Im Zuge dessen wird die Wissenschaft einer kritischen Betrachtung unterzogen und letztlich vom Schriftsteller abgegrenzt. Denn es heißt, „der Forscher sei kein Schöpfer, er erfinde nichts“ (V 291), und schließlich:

Dieser Bonpland, hätte ihm der Professor wohl geantwortet, hatte allerdings Pech, aber können wir beide uns beklagen? Kein Kannibale hat Sie gegessen, kein Ignorant mich totgeschlagen. Hat es nicht etwas Beschämendes, wie leicht uns alles fiel? Und was jetzt geschieht, ist nur, was einmal geschehen mußte: Unser Erfinder hat genug von uns.

V 292

Somit wird der Schöpfer mit dem Erfinder gleichgesetzt: Durch die metafiktionale Qualität der letzten Aussage und der Referenz auf den Erzähler, kann in vorangegangenem Zitat eine Abgrenzung des Forschers vom Schriftsteller gelesen werden – zugunsten des Schriftstellers.

5.2    Unerwartete Wendungen

Neben diversen direkten Anreden, die zwar nicht explizit an den Leser adressiert sind, ihn aber in die Situation des Zuhörers versetzen, finden sich in der Vermessung diverse unerwartete Wendungen. Diese verleihen der Erzählung zumeist Komik, beinhalten aber auch vermehrt Kritik; vor allem werden durch diese Passagen implizit behandelte Themen aufgedeckt.

Im Kapitel „Das Meer“ wird vom Tod von Humboldts Mutter erzählt. Der Tod wird als unschöne Angelegenheit geschildert: „Die Auszehrung hatte sie innerlich verbrannt, ihre Wangen waren eingefallen, ihr Kinn war lang und ihre Nase plötzlich krumm“ (V 35). Für Humboldt scheint der Tod keine gute Begründung dafür zu sein, sein gutes Benehmen zu vergessen, denn es kam ihm „unbegreiflich vor, daß sie sich so ungesittet benehmen konnte.“ (V 35) Nach zwei Stunden voller Schreie schließlich richtet sie ihre letzten Worte an ihren Sohn. Erwartet der Leser nun an dieser Stelle rührende letzte Worte an den Sohn, wird er enttäuscht: „Als es hell wurde, murmelte sie Unverständliches, als die Sonne in den Vormittagshimmel stieg, sah sie ihren Sohn an und sagte, er solle sich gerade halten, so zu lümmeln sei doch keine Art.“ (V 35) Nicht genug, auch Kunths Bedenken, die durch den Erzähler geäußert werden, erscheinen als unangebracht, aber komisch, da sie unerwartet sind:

Dann wandte sie den Kopf ab, ihre Augen schienen zu Glas zu werden, und er sah die erste Tote seines Lebens.

Kunth legte ihm die Hand auf die Schulter. Niemand könne ermessen, was ihm diese Familie gewesen sei.

Doch, sagte Humboldt, als soufflierte ihm jemand, er könne es, und er werde es nie vergessen.

Kunth seufzte gerührt. Er wußte jetzt, er würde er weiterhin sein Gehalt bekommen.

V 35f.

Humboldt und seine Mutter setzen sich nicht emotional mit dem Tod auseinander, vielmehr vergessen sie selbst unter diesen Umständen nicht ihre (deutsche) Erziehung und ihre Sitten. Denn die letzten Worte der Mutter erinnern an eine Unterredung Gauß’ mit dem Vater: „Ein Deutscher, sagte er immer wieder, […] sei jemand, der nie krumm sitze. Einmal fragte Gauß: Nur das? Reiche das denn schon, um ein Deutscher zu sein? Sein Vater überlegte so lange, daß man es kaum mehr glauben konnte. Dann nickte er.“ (V 54)

An anderer Stelle wird von Gauß’ Reise nach Königsberg zu Kant erzählt. Gauß, der gerade sein Lebenswerk, die Disquisitiones Arithmeticae (vgl. V 92) beendet hat, reist zu Kant wegen eines dringlichen Anliegens: „Er habe Ideen, die er noch keinem habe mitteilen können.“ (V 95) Während Gauß detailliert seine Ideen schildert, kommt es zu folgender Reaktion Kants:

Dies sei kein Gedankenspiel! Er behaupte etwa… […] Er behaupte etwa, daß ein Dreieck von genügender Größe, aufgespannt zwischen drei Sternen dort draußen, bei genauer Messung eine andere Winkelsumme habe als die erwarteten hundertachtzig Grad, sich als sphärischer Körper erweisen werde. […] Eines Tages würden solche Messungen durchführbar sein! Doch sei das noch lange hin, einstweilen benötige er die Meinung des einzigen, der ihn nicht für verrückt halten könne, der ihn verstehen müsse. Die Meinung des Mannes, welcher die Welt mehr über Raum und Zeit gelehrt habe als irgendein anderer. […] Er wartete. Die kleinen Augen richteten sich auf ihn.

Wurst, sagte Kant.

Bitte?

Der Lampe soll Wurst kaufen, sagte Kant. Wurst und Sterne. Soll er auch kaufen. […]

Ganz hat mich die Zivilität nicht verlassen, sagte Kant. Meine Herren! Ein Tropfen Speichel rann über sein Kinn.

V 96f.

Scheint es zunächst, als wolle Kant mit dem Ausspruch „Wurst“ Gauß’ Ideen in schroff-komischer Art ablehnen, wendet sich die Situation gleich darauf in tragischer Weise. Hier wird erneut, wie auch in anderen Passagen des Texts, der unaufhaltsame Verfall des Körpers thematisiert, dem auch bekannte Persönlichkeiten nicht entfliehen können. Denn, wie es in einem anderen Kontext heißt: „Auch der Ruhm sei nicht immer ein Schutz.“ (V 252)

Im Kapitel „Die Geister“ versuchen Humboldt und Gauß, Eugen davor zu bewahren, von der Geheimpolizei vernommen zu werden. So machen sie sich auf den Weg zum Gendarmeriekommandanten Vogt, um Eugen rechtzeitig aus der Obhut der Gendarmen zu befreien. Humboldt, der sich in Südamerika noch mehrfach über andere Zivilisationen gewundert hatte, fehlt im Gespräch mit Vogt das Verständnis für die Situation. Nach einem längeren Gespräch „blickten sie einander [ratlos] an“ (V 258), bis Gauß Humboldt aufklärt: „Ob er denn wirklich nicht verstehe? Der Kerl wolle bestochen werden.“ (V 258)

Ein schrecklicher Irrtum, sagte Humboldt, als er ihn auf der Treppe eingeholt hatte. Der Mann habe doch kein Geld gewollt!

Ha, sagte Gauß.

Ein hoher Beamter des preußischen Staates sei nicht bestechlich. So etwas habe es nie gegeben.

Ha!

Dafür lege er seine Hand ins Feuer!

Gauß lachte.

V 259

Humboldts Reaktion ist für den Leser vor allem deshalb so amüsant, da sie seine Naivität unter Beweis stellt, aber auch seinen kritiklosen Glauben an die deutsche Gesellschaft bzw. an sein Bild von deutscher Tugend.

Andere unerwartete Wendungen stellen die Traumsequenzen Gauß’ da, die zugleich metafiktional sind. Hatten Gauß und Humboldt bisher nur metafiktionale Kommentare geäußert, findet sich Gauß nun in einer Traumsituation. Bis dahin sind Träume geschildert worden, die nicht als metafiktional betrachtet werden können (vgl. V 167f.), nun aber erhält Gauß einen unerwarteten Einblick in Bezug auf die Realität. Im Kapitel „Der Garten“ befindet sich Gauß „wegen der Landvermessung“ auf dem Anwesen des Grafen Hinrich von der Ohe zur Ohe, denn „der Staat müsse […] dem Herrn Grafen einige Bäume und einen wertlosen Schuppen abkaufen“ (V 181). Da Gauß erst am Abend am Herrenhaus des Grafen eintrifft und er vom Grafen nicht mehr empfangen wird, wird Gauß in ein Zimmer geführt, in dem er die Nacht verbringen kann.

Am frühen Morgen weckte ihn ein quälender Traum. Er sah sich selbst auf der Pritsche liegen und davon träumen, daß er auf der Pritsche lag und davon träumte, auf der Pritsche zu liegen und zu träumen. Beklommen setzte er sich auf und wußte sofort, daß das Erwachen noch vor ihm lag. Dann wechselte von einer Wirklichkeit in die nächste und wieder nächste, und keine hatte etwas Besseres zu bieten als dasselbe verdreckte Zimmer mit Heu auf dem Boden und einem Wassereimer in der Ecke. […] Als er schließlich erschöpft auf dem Bettrand saß und in den sonnigen Morgenhimmel sah, konnte er das Gefühl nicht loswerden, daß er jene Wirklichkeit, in die er gehörte, um einen Schritt verfehlt hatte.

V 184f.

Gauß wird in die Situation des Lesers versetzt und sieht sich selbst träumen und aufwachen. Im Traum erhält Gauß eine Ahnung davon, dass die Möglichkeit parallel existierender Wirklichkeiten besteht, die einander durchaus ähneln. Dabei wird aber auch auf das Verfahren des Textes selbst verwiesen, durch die Erzählung eine parallele Welt zu schaffen, die der unsrigen Welt, die wir Realität nennen, durchaus ähnelt. An anderer Stelle erhält Gauß in einer weiteren Traumsequenz eine Ahnung davon. Während eines Spaziergangs beschäftigt sich Gauß erneut mit Gedanken an den Tod:

Gauß blinzelte: Etwas mit seinen Augen stimmte nicht, das Firmament schien ihm von Rissen zerfurcht. Er spürte den ersten Regentropfen. Vielleicht sprachen die Toten ja nicht mehr, weil sie in einer stärkeren Wirklichkeit waren, weil ihnen diese hier schon wie ein Traum und eine Halbheit, wie ein längst gelöstes Rätsel erschien, auf dessen Verstrickungen sie sich noch einmal würden einlassen müssen, wollten sie sich darin bewegen und äußern. Manche versuchten es. Die Klügeren verzichteten. […] Der Tod würde kommen als eine Erkenntnis von Unwirklichkeit. Dann würde er begreifen, was Raum und Zeit waren, was die Natur einer Linie, was das Wesen der Zahl. Vielleicht auch, warum er sich immer wieder wie eine nicht ganz gelungene Erfindung vorkam, wie eine Kopie eines ungleich wirklicheren Menschen, von einem schwachen Erfinder in ein seltsam zweitklassiges Universum gestellt. Er blickte sich um. Etwas Blinkendes zog über den Himmel, auf gerader Linie, sehr hoch oben. Die Straße vor ihm kam ihm breiter vor, die Stadtmauer war nicht mehr zu sehen, und zwischen den Häusern erhoben sich spiegelnde Türme aus Glas. Metallene Kapseln schoben sich in Ameisenkolonnen die Straßen entlang, ein tiefes Brummen erfüllte die Luft, hing unter dem Himmel, schien sogar von der schwach vibrierenden Erde aufzusteigen. Der Wind schmeckte säuerlich. Es roch verbrannt. Da war auch etwas Unsichtbares, über das er sich keine Rechenschaft geben konnte: ein elektrisches Schwingen, zu erkennen nur an einem schwachen Unwohlsein, einem Schwanken in der Realität selbst. Gauß beugte sich vor, und seine Bewegung hob alles auf; mit einem Schreckenslaut erwachte er.

V 282f.

Der Erzähler lässt Gauß, diesmal deutlicher, seinen Status als Figur erahnen. Wieder suggeriert der Text die Möglichkeit paralleler Realitäten, was besonders deutlich wird, wenn Gauß einen Blick in die Zukunft werfen darf. Gauß blickt in seinem Traum auf Hochhäuser („sich spiegelnde Türme aus Glas“, V 283) und Autos („Metallene Kapseln“, V 283), und es wird deutlich, dass Gauß mit seinen Zukunftsprognosen so falsch nicht liegt.

Wie beispielhaft an einigen Textstellen verdeutlicht, führen unerwartete Wendungen in der Vermessung nicht nur zu Komik und einer amüsanten Lektüre, sie können auch als Kritik gelesen werden, reflektieren dabei unter anderem den Umgang mit dem Tod, das Verständnis vom Deutschsein, aber auch das Verständnis von Realität und Fiktion.

5.3    Leserfiguren und Zukunftsvisionen

In der Vermessung werden nicht nur Prozesse des Schreibens gezeigt, Gauß tritt auch an einigen Stellen als Leserfigur auf, wobei damit entweder eine explizit metafiktionale Aussage verbunden ist oder wenigstens ein intratextueller Verweis vorliegt. Gleich zu Beginn von Gauß’ Reise nach Berlin wird er als Leser gezeigt:

Gauß versuchte zu lesen, sah jedoch schon Sekunden später auf und beklagte sich über die neumodische Lederfederung der Kutsche; da werde einem ja noch übler, als man es gewohnt sei. Bald, erklärte er, würden Maschinen die Menschen mit der Geschwindigkeit eines abgeschossenen Projektils von Stadt zu Stadt tragen. Dann komme man von Göttingen in einer halben Stunde nach Berlin.

V 8f.

Dadurch, dass eine Figur des erzählten Geschehens als Leser gezeigt wird, wird gleich auf die Situation des Lesers Bezug genommen und bereitet gleichsam auf die metafiktionale Bezugnahme des Professors auf die Gegenwart des Lesers vor. An insgesamt drei anderen Textstellen liest Gauß Humboldts Berichte:

Er aß ein Stück trockenen Kuchen und las in den Göttinger Gelehrten Anzeigen den Bericht eines preußischen Diplomaten über dessen Bruders Aufenthalt in Neuandalusien. […] Der Brief des Mannes war eineinhalb Jahre unterwegs gewesen, nur Gott mochte wissen, ob er noch lebte.

V 87

Tatsächlich hatte [Gauß] seit Wochen keine Zeitung gelesen. Bei Bartels, der alles aufhob, setzte er sich vor einen Stapel alter Journale. Grimmig überblätterte er einen Bericht Alexander von Humboldts über das Hochland von Caxamarca. Wo zum Teufel war dieser Kerl nicht gewesen?

V 151f.

Seine Nase juckte, eine Mücke hatte mitten hineingestochen. Er wischte sich den Schweiß ab. Er dachte an Humboldts Bericht über die Moskitos am Orinoko: Menschen und Insekten konnten nicht auf Dauer zusammenleben, nicht für immer, nicht in alle Zukunft.

V 192

Durch die intratextuellen Verweise wird nicht nur Authentizität vermittelt. Durch die Vermutung, „nur Gott mochte wissen, ob er noch lebte“ (V 87), werden gleichsam Erzähler wie Schriftsteller mit dem Schöpfer gleichgesetzt; denn schließlich ist es der Erzähler, der die Geschichte erzählt. In diesem Sinne wird dem Erzähler nicht nur schöpferische Kraft zugesprochen, es wird auch auf seine Macht über die Erzählung verwiesen. Durch die Visionen bzw. Zukunftsprognosen Gauß’ wird aber auch eine explizite Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt. Wie sich gezeigt hat, werden die Geschehnisse in der Vermessung von einem Erzähler erzählt, der eine größere zeitliche Distanz zum Geschehen haben muss. Indem Gauß aus dem Jahr 1828 seine Zukunftsprognosen anstellt, wird direkt auf die Lebenswelt des Lesers Bezug genommen, und der Leser erhält die Möglichkeit, den vorausgesagten Fortschritt zu überprüfen. Gleichzeitig wird an den Visionen deutlich, wie sehr Vergangenheit und Zukunft bzw. Gegenwart einander bedingen. Die erste von vielen Prognosen Gauß’ bezieht sich auf Gesellschaft und Politik:

Gauß machte eine Verbeugung, die man ihm beigebracht hatte. Er wußte, daß es bald keine Herzöge mehr geben würde. Dann würde man von absoluten Herrschern nur mehr in Büchern lesen, und der Gedanke, vor einem zu stehen, sich zu verneigen und auf sein Machtwort zu warten, käme jedem Menschen fremd und märchenhaft vor.

V 61

Somit wird auf das Ende des Absolutismus hingewiesen. Zwar existiert der Absolutismus in Deutschland nicht mehr, die Prognose, dass „man von absoluten Herrschern nur mehr in Büchern lesen [würde]“ (V 61), erweist sich jedoch mit Blick auf vereinzelte Länder als nicht gänzlich eingetreten. Somit wird gleichzeitig auf den globalen Fortschritt hingewiesen, aber auch eine kritische Hinterfragung gefordert. Eine andere Prognose handelt von Zahnärzten:

Schon in ein paar Jahren würde es Ärzte für das Gebiß geben, dann würde man diese Schmerzen heilen können und bräuchte nicht jeden entzündeten Zahn herauszureißen. Bald würde die Welt nicht mehr voll Zahnloser sein. Auch würde nicht mehr jedermann Pockennarben haben, und keiner würde mehr seine Haare verlieren. Es wunderte ihn, daß außer ihm niemand an diese Dinge dachte. Für die Leute war alles so, wie es gerade war, selbstverständlich.

V 82

Auch diese Voraussage erweist sich als hoffnungsvoll-optimistisch und entspringt sicherlich seinem akuten Leiden, aber auch diese ist nicht komplett eingetreten, denn dass niemand „mehr seine Haare verlieren [würde]“ (V 82), ist auch weiterhin ein sicherlich häufig geäußerter Wunsch. Trotzdem beinhaltet diese Prognose auch Kritik seitens Gauß’ an einer Gesellschaft, die sich zufrieden gibt. Dabei zeigt sich wiederum seine Überheblichkeit, die auch an anderen Passagen zutage kommt. Die Zukunftsprognosen werden allerdings zunehmend metafiktional:

Bald würde all das eine Kleinigkeit sein. Man würde in Ballons schweben und die Entfernungen auf magnetischen Skalen ablesen. Man würde galvanische Signale von einem Meßpunkt zum nächsten schicken und die Distanz am Abfallen der elektrischen Intensität erkennen. Aber ihm half das nicht, er mußte es jetzt tun, mit Maßband, Sextant und Theodolit, in lehmigen Stiefeln, mußte dazu noch Methoden finden, auf dem Weg reiner Mathematik die Ungenauigkeiten der Messung auszugleichen […]

V 191

Dass Gauß „es jetzt tun [mußte]“ (V 191) liegt nun vor allem darin begründet, dass er, der ja seinen Status als Figur in einer anderen Realität bzw. „in einer zweitklassigen Zeit“ (V 260) erahnt, vom Erzähler in diese Welt gesetzt wurde und sie ohne fortschrittliche Technik vermessen muss. Doch gerade dadurch, dass Gauß noch Lösungen und Methoden der Vermessung finden muss, kommt er zu dieser Einsicht:

Manchmal war ihm, als hätte er den Landstrich nicht bloß vermessen, sondern erfunden, als wäre er erst durch ihn Wirklichkeit geworden. Wo nur Bäume, Moos, Steine und Graskuppen gewesen waren, spannte sich jetzt ein Netz aus Gerade, Winkeln und Zahlen. Nichts, was einmal jemand vermessen hatte, war noch oder konnte je sein wie zuvor. Gauß fragte sich, ob Humboldt das begreifen würde.

V 268

An anderer Stelle gelangt auch Humboldt zu ähnlicher Einsicht:

Humboldt fixierte die untergehende Sonne mit dem Sextanten und maß den Winkel zwischen der Jupiterbahn und jener des vorbeiwandernden Mondes.

Jetzt erst, sagte er, existiere der Kanal wirklich.

V 135f.

Beide, Humboldt und Gauß, vermessen nicht nur, sie gehen von der Annahme aus, die jeweiligen geografischen Gebiete existierten erst, weil sie sie erfunden haben. Gegebenheiten erhalten also erst dadurch einen Sinn, indem ihnen dieser zugewiesen wird. Übertragen lässt sich das auch auf Geschichte, Realität und Literatur selbst: Was relevant ist und was als wahr angesehen wird, ist dies nur, weil ihnen vorher dieser Status zugewiesen wurde. Für die Vermessung ist schließlich die einzige Prognose Humboldts von besonderem Interesse, vor allem, da sie titelgebend ist:

Das Ende des Wegs sei fast in Sicht, die Vermessung der Welt fast abgeschlossen. Der Kosmos werde ein begriffener sein, alle Schwierigkeiten menschlichen Anfangs, wie Angst, Krieg und Ausbeutung, würden in die Vergangenheit sinken, wozu gerade Deutschland und nicht zuletzt die Forscher dieser Versammlung den vordringlichsten Beitrag leisten mußten. Die Wissenschaft werde ein Zeitalter der Wohlfahrt herbeiführen, und wer könne wissen, ob sie nicht eines Tages sogar das Problem des Todes lösen werde. Einige Sekunden stand Humboldt unbewegt. Dann verbeugte er sich.

V 238f.

Mit der Vermessung der Welt ist für Humboldt also die Lösung großer menschlicher „Schwierigkeiten“ verbunden, von „Angst, Krieg und Ausbeutung“ (V 238). In seinem Glauben an die (deutsche) Wissenschaft, scheint Humboldt davon fest überzeugt, der Lösung nahe zu sein. Vor dem Hintergrund des Wissens des Lesers und der dargestellten Ereignisse in der Erzählung zeigt sich jedoch, dass die Vermessung keineswegs als abgeschlossenes Projekt betrachtet werden kann. Ebenso ungelöst ist das Problem des Todes – die einzige Lösung, die der Roman anbietet, ist die Literatur selbst. Als Humboldt im Gespräch mit dem Lama darum gebeten wird, dessen toten Hund wieder zum Leben zu erwecken, erwidert Humboldt nur: „Er könne nichts und niemanden auf dem Tod wecken!“ (V 286). Im Gegensatz zu Humboldt, der in der Vermessung als Forscher gezeigt wird, der nicht zu erzählen weiß, kann der Schriftsteller allein dem Tod trotzen, und das in doppelter Weise: Durch die schriftstellerische Tätigkeit kann nicht nur der eigene Name – wenigstens temporär – vor dem Vergessen bewahrt werden, auch können in Literatur historische Persönlichkeiten zu Figuren werden und somit zum Leben erweckt werden. Erneut steht somit der Forscher dem Schriftsteller gegenüber, und der Schriftsteller, wie der Erzähler, besitzen eine Macht, die weder die Figuren noch Wissenschaftler mit ihrem rationalen Denken haben.

Analog zur Vermessung der Gegenwart, die mittels der Zukunftsprognosen des Professors vorgenommen wird, wird das Wissen des Lesers an anderer Stelle herausgefordert. Es wird nicht nur auf die Fotografie verwiesen, die tatsächlich erst später ausgereift war. In der Begegnung Humboldts mit Goethe wird auf eine spätere Textstelle verwiesen:

Goethe nahm ihn beiseite und führte ihn durch eine Flucht in unterschiedlichen Farben gestrichener Zimmer zu einem hohen Fenster. Ein großes Unterfangen, sagte er. […]

Goethe verschränkte die Arme auf dem Rücken. Und nie solle er vergessen, von wem er komme.

Humboldt verstand nicht.

Er solle bedenken, wer ihn geschickt habe. Goethe machte eine Handbewegung in Richtung der bunten Zimmer, der Gipsabgüsse römischer Statuen, der Männer, die sich im Salon mit gedämpften Stimmen unterhielten. Humboldts älterer Bruder sprach über die Vorteile des Blankverses, Wieland nickte aufmerksam, auf dem Sofa saß Schiller und gähnte verstohlen. Von uns kommen Sie, sagte Goethe, von hier. Unser Botschafter bleiben Sie auch überm Meer.

V 36f.

Die Bemerkung von der „Flucht in unterschiedlichen Farben gestrichener Zimmer“ (V 36) verweist auf die Betrachtungen des real-historischen Goethes zum Licht bzw. zu Farben, wie vergleichend die folgende Textstelle untermalt: „Er glaube, flüsterte Bessel, Goethe sei heute in seiner Loge. Gauß fragte, ob das der Esel sei, der sich anmaßte, Newtons Theorie des Lichts zu korrigieren.“ (V 158) Wie Martin herausstellt, treffen in der Diskussion um die Theorie des Lichts zwei verschiedene Konzepte aufeinander:

Während die naturwissenschaftliche Forschungsmethode im Sinne Galileis und Newtons sich ganz auf die Erforschung quantitativer Strukturen beschränkt hat, muß Goethes Farbenlehre als Versuch betrachtet werden, die unmittelbare Wahrheit des sinnlichen Eindrucks gegen die Angriffe der Wissenschaft zu retten (Helmholtz).156

In seiner Polemik gegen Newton hat er dessen Optik scharf kritisiert […]. Die Polemik Goethes gegen Newton ist nicht bloß eine historische Episode, sondern Ausdruck einer viel schwerwiegenderen Auseinandersetzung zwischen entgegengesetzten und einseitigen Standpunkten, die Natur zu betrachten und zu erforschen.157

Die entsprechenden Textstellen in der Vermessung verleiten den Leser nicht nur zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema. Vor diesem Hintergrund wird auch ein anderes Thema aufgemacht, und zwar der kritische Umgang mit dem Konzept des Deutschen, also damit, was es bedeutet, deutsch zu sein, und dem dazugehörigen Bildungshintergrund. Was gefordert wird, ist eine kritische Hinterfragung dessen, was als deutsch gilt, vor allem in Bezug auf Bildung. In Verbindung damit wird auch ein „Bezug auf die deutschen Massenvernichtungen“158 deutlich, der sich vor allem an zwei Textstellen zeigt:

Zwanzigtausend, sagte ein Arbeiter vergnügt. Zur Einweihung des Tempels seien zwanzigtausend Menschen geopfert worden. Einer nach dem anderen: Herz raus, Kopf ab. […]

Guter Mann, sagte Humboldt. Reden Sie keinen Unsinn!

Zwanzigtausend an einem Ort und Tag, das sei undenkbar. Die Opfer würden es nicht dulden. Die Zuschauer würden es nicht dulden. Ja mehr noch: Die Ordnung der Welt vertrüge derlei nicht. Wenn so etwas wirklich geschähe, würde das Universum enden.

Dem Universum, sagte der Arbeiter, sei das scheißegal.

V 202

Hierin zeigt sich einerseits das Unverständnis über derartige Taten, andererseits die ernüchternde Erkenntnis, dem Universum „sei das scheißegal“ (V 202) Ebenso ernüchternd auf Seiten des Lesers ist die Erkenntnis, dass Humboldt mit dieser Aussage Unrecht hat:

So viel Zivilisation und so viel Grausamkeit, sagte Humboldt. Was für eine Paarung! Gleichsam der Gegensatz zu allem, wofür Deutschland stehe.

V 208

Diese Anspielungen auf deutsche Massenvernichtungen sind zwar zunächst subtil, führen aber dazu, diese Ereignisse der deutschen Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Denn solange der Leser diese Anspielungen versteht, ist das Wissen um diesen Teil der deutschen Geschichte noch im Bewusstsein. Abgesehen von der kritischen Auseinandersetzung mit diesen Grausamkeiten der deutschen Geschichte, wird auch das Bestreben Humboldts, die Welt zu vermessen, unter dem Aspekt der Kolonialisierung reflektiert: „Er war in Neuspanien, Neugranada, Neubarcelona, Neuandalusien und den Vereinigten Staaten gewesen“ (V 19). Die Bezeichnung der Orte dient nicht nur der Einordnung in einen historischen Kontext. Da der Erzähler selbst aus größerer zeitlicher Distanz zu dem Geschehen erzählen muss, wird auf das verwiesen, was die Mönche Bonpland und Humboldt in Südamerika entgegenbringen:

Die Mönche der Mission begrüßten sie freundlich, obgleich sie nicht verstanden, was die beiden von ihnen wollten. Der Abt schüttelte den Kopf. Dahinter stecke doch anderes! Niemand reise um die halbe Welt, um Land zu vermessen, das ihm nicht gehöre.

V 71

Angedeutet wird hier, dass man eben nicht nur wissen wolle, „weil man wissen wolle“ (V 70). Durch das Spiel mit dem historischen Roman und der Thematisierung von Geschichte und Realität in der Erzählung wird ein kritischer Umgang von Seiten der Deutschen mit der eigenen Geschichte gefordert. Denn obgleich die deutsche Kolonialvergangenheit durch das Erscheinen diverser Romane wie etwa Morenga (1978) von Uwe Timm, „kurzzeitig […] in das Bewusstsein der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit [rückte]“, galt sie lange als „völlig verdrängter Teil deutscher Geschichte“159. Vor allem vor dem Hintergrund eines weitgehend positiven Bildes, das in Deutschland von den Humboldt-Brüdern besteht, ist besonders die nächste Passage eine Aufforderung zur kritischen Auseinandersetzung:

In seinem Gasthof erreichte ihn ein Brief Humboldts, der ihm empfahl, eines der neuartigen Dampfschiffe zu nehmen. Er schloß Ratschläge über den Umgang mit wilden Menschen an: Man müsse freundlich und interessiert wirken und dürfe weder seine Überlegenheit leugnen, noch es unterlassen, Belehrungen zu äußern, das Wohlgefallen an der Unwissenheit anderer sei eine Form der Herablassung.

V 298

Humboldts Überzeugung, überlegen zu sein und in der Pflicht zu stehen, aus eben dieser Überlegung Belehrungen äußern zu müssen, ist als expliziter Hinweis auf deutsche Kolonialisierung zu lesen, sowie als Forderung der kritischen Auseinandersetzung. Die Vermessung thematisiert so einen Teil deutscher Geschichte, der als vernachlässigt, fast schon vergessen galt und trägt so dazu bei, ihn wieder ins Bewusstsein zu rufen.

Fußnoten

154 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 2., durchgesehene und verbesserte Auflage. München: Wilhelm Fink 1984, S. 257.

155 Iser, Wolfgang: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. 3. Auflage. München: Wilhelm Fink 1994, S. 10.

156 Martin, Maurice: Die Kontroverse um die Farbenlehre. Anschauliche Darstellung der Forschungswege von Newton und Goethe. Schaffhausen: Novalis 1979, S. 8.

157 Ebd., S. 13.

158 Scholz: Zeitgemäße Betrachtungen (2008), S. 50.

159 Volkmann, Christian: Geschichte oder Geschichten? Literarische Historiographie am Beispiel von Adam Scharrers Vaterlandslose Gesellen und Uwe Timms Morenga. Hamburg: IGEL Verlag 2013, S. 76.

Siglenverzeichnis

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FE | Scheffel, Michael: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. Tübingen: Max Niemeyer 1997.

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