3. Der Erzähler:

Geschichte im Konjunktiv

Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt – man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse –; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.88

In der Vermessung der Welt trifft der Leser auf einen Erzähler, der sich verschiedener Mittel bedient, um sich metafiktional über (deutsche) Literatur, literarische Konventionen, aber auch über Geschichte und Geschichtsschreibung zu äußern. Um herauszufinden, ob der Erzähler unter die explizite oder implizite Form der Metafiktion fällt, wird dieser in einem ersten Schritt nach Martinez und Scheffel narratologisch untersucht. Im Anschluss werden vor allem die Fokalisierung und die Stimme des Erzählers betrachtet, um herauszustellen, ob es sich um einen rollenbewussten oder um rivalisierende Erzähler handelt. Zum Abschluss wird das Verhältnis von Fakt und Fiktion bzw. von Geschichten- und Geschichtserzählung betrachtet. Wie das vorangestellte Zitat von Aristoteles sowie die Ansicht Wilhelm von Humboldts, die „Aufgabe des Geschichtsschreibers“ sei die „Darstellung des Geschehenen“89, zeigen, ist die Frage nach der Unterscheidung von Geschichte- und Geschichtenerzählen eine alte. Besonders in der Metafiktion wird eine solche Fragestellung vermehrt aufgegriffen. Da die Vermessung historische Persönlichkeiten zu Figuren macht und sich, wie sich zeigen wird, parodistisch mit dem Genre des historischen und des biografischen Romans auseinandersetzt, wird auch in der Vermessung die Problematik von Geschichte, Geschichtsschreibung und historisierendem Schreiben aufgeworfen.

3.1    Die Erzählerfigur

Der Erzähler strukturiert den Text und lenkt je nach Erzählverfahren den Leser und seine Erwartungen. Die Vermessung der Welt beginnt mit dem Kapitel „Die Reise“, in der die beiden Protagonisten Professor Carl Gauß und Alexander von Humboldt vorgestellt werden. Es deutet sich bereits im ersten Abschnitt des Kapitels an, dass die Lebensläufe dieser beiden Figuren in Verbindung stehen. Im Tempus des Präteritums wird von der Reise des Professors im Jahr 1828 erzählt, die ihn auf Drängen Humboldts nach Berlin führen soll. Der erste Satz liest sich zunächst als sachlicher Bericht: „Im September 1828 verließ der größte Mathematiker des Landes zum erstenmal seit Jahren seine Heimatstadt, um am Deutschen Naturforscherkongreß in Berlin teilzunehmen.“ (V 7) Auf den zweiten Blick verrät das wertende Adjektiv „größte“, dass keinesfalls eine sachlich-faktische Erzählung folgen wird.

Erzählt wird überwiegend, im Sinne Genettes90, in einer Anachronie, die zumeist in der Form von Analepsen auftritt. Begegnet der Leser den beiden Forschern im ersten Kapitel als bereits älteren Herren im Jahr 1828, führt die Erzählung den Leser bereits im zweiten Kapitel, „Das Meer“, in die Kindheit Alexander von Humboldts, im dritten Kapitel, „Der Lehrer“, in die Kindheit des Professors Gauß. Die in den darauffolgenden Kapiteln geschilderten Ereignisse geschehen zeitlich nach den erzählten Kindheiten, finden jedoch noch vor dem Treffen der beiden Forscher im Jahr 1828 statt. Scheint es zuerst, als würde es im folgenden Verlauf der Erzählung um die Ereignisse auf dem eingangs erwähnten Naturforscherkongress in Berlin gehen, zeigt sich jedoch, dass die im ersten Kapitel geschilderte Handlung erst nach neun weiteren Kapiteln, im elften Kapitel, „Der Sohn“ wieder aufgegriffen wird. Innerhalb dieser neun Kapitel wird abwechselnd von Humboldt und Gauß erzählt, wobei die Reisen Humboldts im Fokus stehen. Eugen, der bereits im ersten Kapitel als Figur eingeführt wird, kommen zwei Kapitel zu, das zwölfte, „Der Vater“, und das sechzehnte und letzte, „Der Baum“. Dass die Handlung im elften Kapitel wieder an die im ersten Kapitel eingeführten Ereignisse anschließt, wird nicht nur durch das Zusammensitzen der Männer, sondern auch durch die Ortsangabe Berlin deutlich. Nach der langen Unterbrechung der Handlung durch Rückblicke endet die Erzählung letztlich mit Eugens Aufbruch nach Amerika. Das bedeutet, dass sich sieben der 16 Kapitel gleichsam als Rahmung für die Rückblicke in die Vergangenheit der Männer lesen lassen.

Nicht nur die chronologische Ordnung der erzählten Ereignisse wird nicht eingehalten, auch die zeitliche Dauer der Erzählung variiert. Der Text wechselt von kurzen, fast sachlichen Berichten, beispielsweise von der Umgebung (vgl. V 72) zu kurzen Figurenbeschreibungen (vgl. V 14), durch die die Handlung stetig kurzzeitig pausiert wird, bis hin zu zeitraffenden Berichten von Ereignissen (vgl. V 113). Dazwischen überwiegen szenische Darstellungen, die sich jedoch durch indirekte Rede auszeichnen. An dieser Stelle kann bereits von gebrochenem Realismus gesprochen werden, dem Begriff, der in der Forschung von Kehlmann selbst übernommen worden ist. Beachtet werden muss beim Begriff Realismus, dass dieser durchaus komplex ist, da er bisher noch nicht eindeutig definiert wurde und sich auf Verschiedenes bezieht.91 Für den Roman wurde der Realismus im 19. Jahrhundert bestimmend, denn im Vordergrund stand die Frage der „Darstellbarkeit und der Umgang mit der ‚Wirklichkeit‘“ (ME 91), wobei der Erzähler eine zentrale Rolle einnahm. Seit dem 20. Jahrhundert schließlich stehen weniger die Abbildung von Wirklichkeit oder die Vermittlung von Wahrheit im Vordergrund und der Erzähler „maßt sich nicht länger an, eine empirische Wirklichkeit, also allgemeingültige Wahrheiten zu präsentieren.“ (ME 100) Wird also davon ausgegangen, dass es beim Realismus um die Darstellbarkeit der Wirklichkeit geht, so kann bei den szenischen Darstellungen in indirekter Rede von gebrochenem Realismus gesprochen werden. Zwar erhöht sich einerseits die Unmittelbarkeit der Erzählung, die fehlende Markierung der Rede mittels Anführungszeichen und die Vermittlung in indirekter Rede lassen andererseits keine komplette Unmittelbarkeit zu. Ebenfalls wird der Leser an diversen Stellen in der Schwebe gehalten, wenn teilweise auf verba dicendi verzichtet wird:

Vielleicht sei ihm aufgefallen, daß Braunschweig noch keine Sternwarte habe.

Beizeiten, sagte Gauß.

Was?

Es sei ihm aufgefallen.

Nun frage er sich, ob die Stadt nicht eine bekommen müsse. Und Doktor Gauß, trotz seiner Jugend, solle ihr erster Direktor sein. Der Herzog stemmte die Hände in die Seiten. Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. Das überrasche ihn, nicht wahr? Er wolle einen Professorentitel dazu, sagte Gauß.

V 145

Beispielhaft für diverse andere Textstellen wird in obigem Zitat nicht stets eindeutig markiert, ob es sich um indirekte Rede ohne verba dicendi handelt oder sogar um eine Darstellung von Gedanken. Durch indirekte Rede „kann im Prinzip alles Gesagte dargestellt werden, es fehlt jedoch die Wörtlichkeit“ (EE 52). Das bedeutet aber auch, „daß eine narrative Instanz hier die Rede eines anderen in die eigene Rede integriert“, wodurch „der individuelle Stil der Figurenrede […] verloren [geht].“ (EE 52) Folglich wird „einerseits die Illusion einer gewissen Unmittelbarkeit erweckt, die Figurenrede andererseits aber nahezu durchgängig durch den Filter eines Erzählers präsentiert“ (EE 54). Obgleich die Rede dabei eigentlich an Individualität verlieren müsse, verändert der Erzähler partiell leicht den Stil der indirekten Rede, beispielsweise durch den restlichen Stil der Erzählung widersprechende längere Sätze oder gewisse Wortwahl. Dies zeigt sich beispielsweise an der Figur Goethes:

[Alexander von Humboldt] war der jüngere von zwei Brüdern. Ihr Vater, ein wohlhabender Mann von niederem Adel, war früh gestorben. Seine Mutter hatte sich bei niemand anderem als Goethe erkundigt, wie sie ihre Söhne ausbilden solle.

Ein Brüderpaar, antwortete dieser, in welchem sich so recht die Vielfalt menschlicher Bestrebungen ausdrücke, wo also die reichen Möglichkeiten zu Tat und Genuß auf das vorbildlichste Wirklichkeit geworden, das sei in der Tat ein Schauspiel, angetan, den Sinnen mit Hoffnung und den Geist mit mancherlei Überlegung zu erfüllen. Diesen Satz verstand keiner.

V 19

Nicht nur typografisch wird die Schilderung von Goethes Aussage abgesetzt, indem ihr ein eigener Absatz zugestanden wird. Im Vergleich zu den unmittelbar voran- und nachgestellten Sätzen fällt ein stilistischer Unterschied auf, der vor allem in der Länge der Antwort Goethes, der im Druck sechs Zeilen umfasst, liegt. Ist der Erzählstil sonst vorwiegend klar und prägnant, und zumeist durch kürzere Sätze gekennzeichnet, wird in der Antwort Goethes der Stil der Figur, nicht der des Erzählers übernommen. Das Spiel mit der Mittelbarkeit wird also in der Übernahme eines anderen Stils fortgeführt, da die Distanz der indirekten Rede so relativiert wird. Zugleich wird an dieser, wie an diversen anderen Stellen im Text, dem Erzähler als erfindender Instanz subtil eine Machtstellung zugewiesen, da die gesamte Erzählung durch die indirekte Rede seine Worte, nicht die der Figuren ist.

Daneben erweckt „der Gebrauch von Zeitadverbien wie ‚schon‘, ‚nun‘ und ‚jetzt‘, die sich eindeutig auf den Wahrnehmungsort der erlebenden Figur beziehen, die Illusion einer geringen Distanz zu der Figur und ihren Gefühlen.“ (EE 58) Solche Zeitadverbien werden vielfach in die Erzählung integriert und sie markieren zumeist einen Wechsel der Perspektive oder ein neues Ereignis:

Monatelang hatte [der größte Mathematiker des Landes] sich geweigert, aber Alexander von Humboldt war hartnäckig geblieben, bis er in einem schwachen Moment und in der Hoffnung, der Tag käme nie, zugesagt hatte.

Nun also versteckte sich Professor Gauß im Bett. Als Minna ihn aufforderte aufzustehen, die Kutsche wartete und der Weg sei weit, klammerte er sich ans Kissen und versuchte seine Frau zum Verschwinden zu bringen, indem er die Augen schloß. Als er sie wieder öffnete und Minna noch immer da war, nannte er sie lästig, beschränkt und das Unglück seiner späten Jahre.

V 7

Die Verbindung von indirekter Rede und dem Gebrauch von Zeitadverbien bewirkt einen steten und schnellen Wechsel der Distanz zum erzählten Geschehen. Auf einen kurzen Dialog in indirekter Rede von Gauß und seinem Sohn Eugen, der zugleich Distanz fördert und verringert, folgt ein Blick auf Eugen: „Eugen gab ihm das, welches er gerade aufgeschlagen hatte: Friedrich Jahns Deutsche Turnkunst. Es war eines seiner Lieblingsbücher.“ (V 8) Im Anschluss daran werden der Gebrauch von Zeitadverbien und Metafiktion verbunden:

Gauß versuchte zu lesen, sah jedoch schon Sekunden später auf und beklagte sich über die neumodische Lederfederung der Kutsche; da werde einem ja noch übler, als man es gewohnt sei. Bald, erklärte er, würden Maschinen die Menschen mit der Geschwindigkeit eines abgeschossenen Projektils von Stadt zu Stadt tragen. Dann komme man von Göttingen in einer halben Stunde nach Berlin.

Eugen wiegte zweifelnd den Kopf.

Seltsam sei es und ungerecht, sagte Gauß, so recht ein Beispiel für die erbärmliche Zufälligkeit der Existenz, daß man in einer bestimmten Zeit geboren und ihr verhaftet sei, ob man wolle oder nicht. Es verschaffe einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und mache einen zum Clown der Zukunft.

Eugen nickte schläfrig.

Sogar ein Verstand wie der seine, sagte Gauß, hätte in frühen Menschheitsaltern oder an den Ufern des Orinoko nichts zu leisten vermocht, wohingegen jeder Dummkopf in zweihundert Jahren sich über ihn lustig machen und absurden Unsinn über seine Person erfinden könne.

V 8f.

Dem Adverb „bald“ folgt eine Zukunftsprognose des Professors, die humoristisch gelesen werden kann: Die Angst der Figur in der Fiktion, durch einen „Dummkopf in zweihundert Jahren“ zum „Clown der Zukunft“ (V 9) gemacht zu werden, ist eine eindeutige Referenz auf die Erzählung selbst und somit metafiktional. Selbstironisch wird hier ein weiterer Hinweis darauf gegeben, dass es sich bei der Vermessung eindeutig um eine Fiktion handelt, die kreativ mit historischen Figuren und Ereignissen umgeht. Nicht nur Gauß werden Aussagen zugeschrieben, die auf die Gegenwart des realen Lesers zutreffen:

Auf dem Heimweg sahen die Brüder eine zweite, nur wenig größere Silberscheibe neben dem gerade aufgegangenen Mond. Ein Heißluftballon, erklärte der ältere. Pilâtre de Rozier, der Mitarbeiter der Montgolfiers, weile zur Zeit im nahen Braunschweig. Die ganze Stadt rede davon. Bald würden alle Menschen in die Luft steigen.

Aber sie würden es nicht wollen, sagte der Jüngere. Sie hätten zuviel Angst.

V 28

Zwar ist die Wahl des fliegenden Transportmittels des zeitgenössischen realen Lesers der Vermessung nicht der Heißluftballon, sondern eher das Flugzeug, trotzdem lässt sich die Voraussage auf die Gegenwart des Lesers beziehen. Hierdurch wird unter anderem wiederum eine Distanz zu den Figuren geschaffen, da sich deren Lebenswelt in dieser Hinsicht deutlich von der des realen Lesers der Vermessung unterscheidet. Gleichzeitig wird die Distanz eben durch das Verlassen des Kontexts des 19. Jahrhunderts und den Bezug auf die Gegenwart des realen Lesers verringert.

Die Verbindung von erzähltem Geschehen im Präteritum und indirekter Figurenrede kann als weiteres Merkmal gebrochenen Realismus und als implizite metafiktionale Verfahrensweise gesehen werden: Erweckt das Tempus Präteritum in Kombination mit der Fiktionalisierung historischer Figuren den Eindruck einer im Rahmen der Fiktion wirklich geschehenen und somit den Eindruck realistisch erzählter Handlung, wird dieser Realismus durch die indirekte Rede durchbrochen. Zugleich wird dem ‚tatsächlichen‘ Wortlaut der Figuren wenig Wert beigemessen und dadurch Skepsis an Sprache deutlich. Durch die indirekte Rede treten aber auch der Erzähler und das Erzählen in den Vordergrund, und in Kombination mit der fiktionalen Auseinandersetzung mit historischen Persönlichkeiten wird ein alternatives Geschichtsverständnis erprobt bzw. die Darstellbarkeit historischer Ereignisse kritisch hinterfragt.

Die durchgängige Nutzung indirekter Rede und die punktuelle Unsicherheit darüber, welche Instanz oder Figur spricht, hauptsächlich ausgelöst durch fehlende verba dicendi, sind Hauptmerkmale der Erzählung. Durch die Literarisierung und Fiktionalisierung historischer Ereignisse und Figuren allerdings wird somit aber auch auf die Notwendigkeit, die Praktiken der und den Umgang mit Geschichte und Geschichtsschreibung kritisch zu hinterfragen, hingewiesen.

Das erste Kapitel der Vermessung, das einleitend von der Reise Gauß’ nach Berlin erzählt, endet schließlich mit seiner Ankunft und der ersten Begegnung mit Humboldt. Dieser Moment der Begegnung wird auf doppelte Weise festgehalten. Zugleich wird von der Begegnung und von dem Prozess der medialen Fixierung des Moments erzählt: Herr Daguerre, „[e]in Schützling von [Humboldt]“, versucht mittels eines Geräts, „den Augenblick auf eine lichtempfindliche Silberjodidschicht [zu] bannen und der fliehenden Zeit [zu] entreißen“ (V 15), also ein Foto zu machen. Der etwa fünfzehnminütige Prozess wird von einem Polizisten und Gauß’ Ungeduld unterbrochen und wie folgt reflektiert:

Gauß stöhnte und riß sich los.

Ach nein, rief Humboldt.

Daguerre stampfte mit dem Fuß auf. Jetzt sei der Moment für immer verloren!

Wie alle anderen, sagte Gauß ruhig. Wie alle anderen.

Und wirklich: Als Humboldt noch in derselben Nacht, während Gauß im Nebenzimmer so laut schnarchte, daß man es in der ganzen Wohnung hörte, die belichtete Kupferplatte mit einer Lupe untersuchte, erkannte er darauf gar nichts. Und erst nach einer Weile schien ihm ein Gewirr gespenstischer Umrisse darin aufzutauchen, die verschwommene Zeichnung von etwas, das aussah wie eine Landschaft unter Wasser. Mitten darin eine Hand, drei Schuhe, eine Schulter, der Ärmelaufschlag einer Uniform und der untere Teil eines Ohres. Oder doch nicht? Seufzend warf er die Platte aus dem Fenster und hörte sie dumpf auf den Boden des Hofes schlagen. Sekunden später hatte er sie, wie alles, was ihm je mißlungen war, vergessen.

V 16f.

Wie sich zeigt, kann das dargestellte Medium, die Fotografie, den Moment weder adäquat noch realitätsgetreu wiedergeben oder festhalten, denn Humboldt „erkannte […] darauf gar nichts“ (V 16f.). Gleichzeitig werden hier Fotografie und Literatur parallel geführt und voneinander abgegrenzt. Es wird bereits hier angedeutet, dass in der Vermessung die Möglichkeiten und Beschränkungen realitäts- bzw. wahrheitsgetreuer Abbildung sowie, damit zusammenhängend, das Verhältnis von Literatur zu anderen Medien und deren jeweiligen Möglichkeiten ausgelotet werden. Während das Medium Fotografie nicht imstande ist, den Moment festzuhalten, beweist die Erzählung, dass Literatur mit seinen spezifischen Mitteln eben dazu in der Lage ist. Zugleich aber wird, ähnlich wie in der Fotografie nur „ein Gewirr gespenstischer Umrisse“ (V 17) zu erkennen ist, auch in der Literatur nicht lediglich abgebildet, was ‚wirklich‘ geschehen ist. „Oder doch nicht?“ (V 17) – das ist die leitende Frage in der Vermessung, denn stets lässt der Text offen, ob die Schilderungen der Ereignisse, Gespräche und Gedanken als zuverlässig zu betrachten sind. Somit werden historische Genauigkeit und die Möglichkeit wahrheitsgetreuer Abbildung infrage gestellt, und zugleich ein anderer Zugang zu Wahrheit eröffnet. Indem Fotografie und Literatur parallel geführt werden, wird deutlich, dass die empirische Welt weder narrativ wiedergegeben wird, wie Gass über die Metafiktion herausgestellt hat, noch kann das ‚Reale‘ gefasst werden, wie schon Scholes beobachtet hat. Indem Literatur fasst, was die Fotografie nicht zu fassen vermag, wird – und hierin wird die Verbindung zum Historiker im Sinne von Scholes deutlich – in der Literatur die Welt jenseits des Faktischen und Dokumentarischen, als dessen Ausdruck die Fotografie auf den ersten Blick gelten kann, erfahren. Somit wird also ein naives Konzept realistischer Darstellung angezweifelt, was nach Hutcheon eine Konsequenz metafiktionaler Strategien ist.

Nicht nur durch die indirekte Rede, auch durch Kapitelüberschriften, Seitenumbrüche und Blickwechsel wird die Erzählung als Erzählung markiert und deren Mittelbarkeit verringert. Nicht nur hierin ist ein Indiz dafür zu sehen, dass der Erzähler keine Figur des erzählten Geschehens ist.

3.2    Fokalisierung und Stimme

Wie bereits festgehalten, handelt es sich bei dem Einsatz eines rollenbewussten Erzählers um eine explizit metafiktionale Strategie, und bei rivalisierenden Erzählern um eine implizite Verfahrensweise. Diese sind zwei der häufigsten und vor allem am eindeutigsten zu identifizierenden Möglichkeiten der Metafiktion auf der Ebene des Erzählers, jedoch durchaus nicht die einzigen (vgl. MR 36).

Es stellt sich nun also zunächst die Frage, aus welcher Sicht das Erzählte vermittelt wird, also nach der Fokalisierung. Im Anschluss an Genette unterscheiden Martinez und Scheffel drei Typen der Fokalisierung: „1. Nullfokalisierung: […] der Erzähler weiß bzw. sagt mehr, als irgendeine der Figuren weiß bzw. wahrnimmt“, „2. Interne Fokalisierung: […] der Erzähler sagt nicht mehr, als die Figur weiß“ und „3. Externe Fokalisierung: […] der Erzähler sagt weniger, als die Figur weiß“ (EE 64). Zwar kann die Fokalisierung fest sein, also durchgängig eingehalten werden, aber auch variabel oder multipel. Ist sie variabel, wird beispielsweise der Blick zwischen den Figuren gewechselt, es handelt sich also um „Allwissenheit mit partiellen Einschränkungen des Feldes“ (DE 124). Andere Erzählungen können gekennzeichnet sein von „Polymodalität, also das Nebeneinander von verschiedenen Fokalisierungstypen“ (EE 67). Bei der multiplen Erzählung wird „ein und dasselbe Ereignis von mehreren […] Figuren mit je eigenem point of view geschildert oder interpretiert“ (EE 121). In der Vermessung scheint es sich nicht um rivalisierende Erzähler zu handeln. Die Bestimmung der Fokalisierung erweist nicht hingegen als nicht so eindeutig. Bereits Genette hält fest, dass sich „bisweilen nur schwer zwischen variabler Fokalisierung und Nullfokalisierung unterscheiden [lässt], da die unfokalisierte Erzählung sehr häufig als eine ad libitum multifokalisierte Erzählung betrachtet werden kann, nach dem Prinzip wer mehr kann, kann auch weniger“ (DE 123). Damit hängen seine Betrachtungen zur internen Fokalisierung zusammen, dass diese

nur selten in aller Strenge praktiziert wird. Denn im Prinzip impliziert dieser narrative Modus ja, dass die lokale Figur ungenannt bleibt, nie von außen beschrieben wird, und dass der Erzähler ihre Gedanken oder Wahrnehmungen nie objektiv analysiert. […] Hingegen ist die Fokalisierung […] perfekt, die sich damit begnügt zu beschreiben, was ihr Held sieht […]. […] Jean Pouillon arbeitet dieses Paradox sehr schön heraus, wenn er schreibt, dass die Figur in der „Mitsicht“ nicht in „ihrem Innenleben [gesehen wird], denn dann müßten wir aus ihr heraustreten, während wir doch völlig in ihr aufgehen, sondern in dem Bild, das sie sich von den anderen macht und durch das sie gewissermaßen hindurchscheint. […]“ Restlos verwirklicht wird die interne Fokalisierung nur im „inneren Monolog“ […].

DE 123

Erscheint etwas lediglich als gegeben, so sieht Genette dies als eindeutiges Zeichen für eine externe Fokalisierung.92 Die gesamten Geschehnisse in der Vermessung werden jedoch von einer narrativen Instanz in der dritten Person und im Präteritum erzählt. Die wiederholt verwendeten Zeit- und Raumadverbien beziehen sich zwar unmittelbar auf die Wahrnehmung der Figuren („Er wusste inzwischen, daß Bartels die ersten zwei Nächte nach ihrer Begegnung wachgelegen […] hatte“, V 84), in vielen Fällen nimmt der Erzähler jedoch Informationen über die Figuren vorweg, die diese selbst zum Zeitpunkt der geschilderten Ereignisse noch nicht haben können:

Bartels hatte nicht verstanden. […] Bartels hatte eine Weile geschwiegen, bevor er mit einer Verachtung, für die er sich später schämte, gefragt hatte, ob sie denn nicht wisse, daß ihr Sohn der größte Wissenschaftler der Welt sei. Sie hatte sehr geweint, es war furchtbar peinlich gewesen. Gauß hatte es nie ganz geschafft, Bartels zu verzeihen.

V 85

Die Auskünfte über die erst in der Zukunft aufkommende Scham Bartels und die Unfähigkeit des Professors Gauß zu verzeihen sind Vorgriffe des Erzählers, also Prolepsen. Sofern es sich nicht um prophetische Träume oder Intervention des Übernatürlichen handelt, gilt für die Prolepse, dass sie stets „die Erkenntnisfähigkeiten des Helden übersteigen“ (DE 131). Es kann sich demnach nicht um eine interne Fokalisierung handeln, sondern um eine Nullfokalisierung. Somit, und wegen der Verwendung des Indikativs, ist die Aussage, „es war furchtbar peinlich gewesen“ (V 85), als Kommentar des Erzählers zum Geschehen zu lesen. Derartige wertende Einschätzungen des Erzählers finden sich in der Erzählung wieder und wieder, bleiben dabei jedoch sehr subtil, da sie durch den steten Wechsel von Indikativ und Konjunktiv erst durch genaues Lesen erkannt werden. Auch an anderer Stelle erhält der Leser eine Auskunft über Humboldt, die in aller Konsequenz ebenfalls nur vom Erzähler aus der Nullfokalisierung erteilt werden kann:

Seufzend warf er die Platte aus dem Fenster und hörte sie dumpf auf den Boden des Hofes schlagen. Sekunden später hatte er sie, wie alles, was ihm je mißlungen war, vergessen.

V 16f.

Die detaillierte Beschreibung des „Gewirr[s] gespenstischer Umrisse“ (V 17) auf der Fotografie stehen im Gegensatz zur Aussage, die Figur Humboldt hätte diese vergessen. Wie im vorigen Zitat auch, zeigt sich hierin die Dominanz der Nullfokalisierung. Zwar fokussiert der Erzähler den Blick überwiegend auf die Figuren Gauß und Humboldt, derartige subtile Hinweise verweisen jedoch darauf, dass der Blick nie vollständig in eine andere Figur gewechselt wird. Wie bereits zuvor bereits festgestellt, spielt der Erzähler jedoch auch in dieser Hinsicht mit dem Leser, indem punktuell unentscheidbar bleibt, wer spricht und aus welcher Sicht gesprochen wird:

Eugen tat beeindruckt, obgleich er wußte, daß die Geschichte nicht stimmte. Sein Bruder Joseph hatte sie erfunden und verbreitet. Inzwischen mußte sie dem Vater so oft zu Ohren gekommen sein, daß er angefangen hatte, sie zu glauben.

V 13

Der Erzähler gewährt einen Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt Eugens. Letztlich jedoch bleibt unklar, ob es sich um letztere Aussage um die Vermutungen Eugens, oder um eine eindeutige Aussage des Erzählers handelt. Es wird also einerseits der Erzähler als lenkende und leitende Figur gezeigt, die über die Gefühls- und Gedankenwelt sowie über sich in der Zukunft ereignende Geschehnisse informiert ist. Andererseits wird durch solche Unsicherheit über die Unzuverlässigkeit der Eindruck interner Fokalisierung erweckt: „Ob er verstehe? So ungefähr, sagte Eugen müde und sah auf seine Taschenuhr. Sie ging nicht sehr genau, aber es mußte zwischen halb vier und fünf Uhr morgens sein.“ (V 13). Dadurch wird zwar die Distanz zu der Figur verringert, aber zugleich der Eindruck erweckt, der Erzähler könne am Geschehen beteiligt sein. Neben Einblicken in die Gefühls- und Gedankenwelt der Figuren gibt der Erzähler auch schriftliche Erzeugnisse, zumeist Briefe, gleichsam als Erzählung in indirekter Rede wieder. So beginnt beispielsweise das achte Kapitel, „Der Berg“, mit der Schilderung von Bonplands Schreibversuchen: „Beim Licht einer Ölfunzel, während der Wind immer mehr Schneeflocken vorbeitrug, versuchte Aimé Bonpland, einen Brief nach Hause zu schreiben.“ (V 163) Im Folgenden gibt der Erzähler die Erlebnisse der vergangenen Monate aus der Sicht Bonplands wieder, die sich gleichsam als Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse von Humboldt und Bonpland lesen lassen. Dabei wird wiederum die Distanz zu den Figuren verringert: „Morgen, schrieb Bonpland weiter, wollten sie den Chimborazo bezwingen.“ (V 163) Somit wird erneut der Eindruck von Unmittelbarkeit erweckt.

In welcher Beziehung steht nun der Erzähler zu den Figuren und dem erzählten Geschehen? Für den Zeitpunkt des Erzählens lässt sich eine Mischform aus überwiegend späterem und punktuellem früheren Erzählen feststellen. Jedoch belegt nicht der Verweis auf das Jahr 1828 das spätere Erzählen, sondern die Verwendung des epischen Präteritums. Der zeitliche Abstand bleibt dabei jedoch unbestimmt, da wenige Rückschlüsse auf den Erzähler gezogen werden können. Lediglich durch die metafiktionalen Aussagen von Gauß und seinen Traumsequenzen kann vermutet werden, dass die zeitliche Distanz nicht gering sein kann. Das frühere Erzählen findet, wie bereits herausgestellt, zumeist in der indirekten Rede der Figuren statt. Der dadurch verwendete Konjunktiv, so hat Sprenger gezeigt, ist insofern als metafiktionale Strategie zu verstehen, als somit immer nur Möglichkeiten aufgezeigt werden und wiederum die Darstellbarkeit von Wirklichkeit, aber auch des Wissens des kulturellen Gedächtnisses, also Geschichte, infrage gestellt wird. Es hat sich ebenfalls gezeigt, dass es vereinzelt so scheint, als könne der Erzähler eine Figur des erzählten Geschehens sein. Innerhalb des erzählten Geschehens tritt die narrative Instanz jedoch weder explizit als Figur auf, noch wird sie von den Figuren angesprochen, einbezogen oder beschrieben. Der Erzähler stellt, wenn auch subtil, seine Stellung als Erzähler des Geschehens, nicht als Beteiligter, wiederholt zur Schau. Unterstützt wird dies vor allem durch die diversen Blickwechsel, aber auch typografisch durch Seitenumbrüche, Kapitelüberschriften, diese sogar in einer anderen Schriftart. Die zuvor angemerkten Briefe öffnen dabei kaum merklich neue Erzählebenen: „Neben einer mündlichen Erzählung oder einem Brief können schließlich auch ein vorgelesenes oder zitiertes Buch, ein Manuskript, ein Traum oder sogar ein Bild oder ein Bilderzyklus eine neue Erzählebene öffnen.“ (EE 77) Diese intradiegetischen Erzählungen fungieren dabei zumeist als intratextuelle Referenz, da sie bereits Geschehenes zusammenfassen, reflektieren, aus einem anderen Blick beurteilen, und der Erzählung gleichzeitig eine weitere Dimension geben. Allerdings kann auch von gebrochenem Realismus gesprochen werden, da die Erwartungen des Lesers durchbrochen werden: Statt der ‚wirklichen‘ Worte des Schreibers zu lesen, werden diese wieder lediglich in der indirekten Rede wiedergegeben.

Der Erzähler schildert also Ereignisse, die in der Vergangenheit liegen und macht auf verschiedene Weise deutlich, dass er die Kontrolle über die Erzählung innehat. Da es sich bei der Vermessung um eine Erzählung handelt, in der „der Erzähler nicht zu den Figuren seiner Geschichte gehört“ und in der „dementsprechend die dritte Person dominiert (in diesem Fall gibt es kein erlebendes, sondern nur das erzählende, als leibliche Person womöglich gar nicht faßbare Ich des Sprechers der Erzählrede)“ (EE 81), liegt nach Martinez und Scheffel ein heterodiegetischer Erzähler vor.

Letztlich bleibt offen, wem erzählt wird. Anders als Erzähler in den Romanen von beispielsweise Diderot (Jacques le Fataliste, 1773-75), Sterne (Tristram Shandy, 1759) oder Wieland, in denen ein selbstbewusster Erzähler „Reflexionen über sich, sein Erzählen und seine Geschichte anstellt und sich in einem steten Gespräch mit seinen Lesern befindet“ (EE 86), steht der Erzähler in der Vermessung nicht in einem offenen Dialog mit dem Leser. Anstelle von expliziten Leseranreden, wie man sie mitunter in der Romantik häufig findet,93 ist die Vermessung durch in den Text eingebaute metafiktionale Strategien gekennzeichnet. Indem der Text real-historische Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, vor allem Schriftsteller des 18. und 19. Jahrhunderts fiktionalisiert und als Figuren auftreten lässt, wird mitunter durch die Abgrenzung zum übermäßig selbstbewussten Erzähler eine Distanz geschaffen. Besonders an einer Stelle jedoch spielt der Erzähler deutlich mit dieser Rolle, was dabei eng mit den fehlenden verba dicendi, die sich an diversen anderen Textstellen finden lassen, verbunden ist. Der erste Absatz des vorletzten Kapitels der Vermessung, „Die Steppe“, setzt sich stilistisch vom Rest der Erzählung ab. Nicht nur wird zweimal die Ansprache „meine Damen und Herren“ (V 263) verwendet, auch variiert erneut die Satzlänge, wie es bereits bei der Aussage Goethes der Fall war. Zuvor, im Kapitel „Der Äther“, wird bereits von einer anderen Rede erzählt:

Mit halbgeschlossenen Augen sprach Humboldt von Sternen und Strömen. Seine Stimme war leise, aber im ganzen Saal zu hören. Er stand vor der riesigen Kulisse eines Nachthimmels, auf dem sich Sterne zu konzentrischen Kreisen ordneten: Schinkels Bühnenbild zur Zauberflöte, für diesen Anlaß noch einmal aufgespannt.

V 235

Nach fast dreiseitiger Wiedergabe von Humboldts Eröffnungsansprache (vgl. V 225) beim Naturforscherkongress in indirekter Rede, wird zunächst der Blick auf Gauß gerichtet, der die Veranstaltung verlässt. Wird im Folgenden das Aufeinandertreffen von Gauß und Humboldt in dessen Haus geschildert, wird in der „Steppe“ unvermittelt im Indikativ gesprochen:

Was, meine Damen und Herren, ist der Tod? Im Grunde nicht erst das Verlöschen und die Sekunden des Übergangs, sondern schon das lange Nachlassen davor, jene sich über Jahre dehnende Erschlaffung; die Zeit, in der ein Mensch noch da ist und zugleich nicht mehr und in der er, ist auch seine Größe lange dahin, noch vorgeben kann, es gäbe ihn. So umsichtig, meine Damen und Herren, hat die Natur unser Sterben eingerichtet!

V 263

Ohne weitere Erklärung, erneut ohne verba dicendi und ohne eindeutige Markierung, wer spricht, wird der Tod thematisiert, ein Thema, das die gesamte Erzählung hindurch wiederholt aufkommt. Dadurch, dass im Folgenden berichtet wird, wie Humboldt das Podium verließ,94 und vor allem, da das Thema Tod im Folgenden aufgegriffen wird, kann vermutet werden, es handle sich um unmarkierte direkte Rede Humboldts. Durch die fehlenden verba dicendi und die fehlende eindeutige Markierung des Sprechers, kann es sich jedoch an dieser Stelle potenziell um direkte Rede des Erzählers handeln. An derartigen Textstellen, die Unsicherheiten markieren, zeigt sich der viel zitierte gebrochene Realismus.

Zusammenfassend zeigt sich: In der Vermessung liegen weder rivalisierende noch ein explizit rollenbewusster Erzähler vor. Es ist bereits festgehalten worden, dass der Einsatz dieser Erzähler als implizite bzw. explizite metafiktionale Verfahrensweise zwar die eindeutigsten, jedoch nicht die einzigen Möglichkeiten sind. Wie beispielhaft an diversen Textstellen herausgearbeitet, werden, in eher explizit metafiktionaler Art, die Ereignisse um Gauß und Humboldt von einem Erzähler erzählt, der zwar den Blick zwischen verschiedenen Figuren schweifen lässt, dabei jedoch stets seine Stellung als Erzähler deutlich markiert. Dies geschieht dabei allerdings nicht, wie beispielsweise in selbstbewussten Romanen der Romantik, durch gezielte Leserlenkung mittels gehäufter Leseransprachen.

3.3    Geschichtserzählung vs. Geschichtenerzählen

Es gebe eine oberflächliche Wahrheit und eine tiefere, sagte Ehrenberg, gerade als Deutscher wisse man das.

V 279

In der Vermessung wird in humoristischem und ironischem Ton ausschnittsweise aus den Leben der Forscher Carl Gauß und Alexander von Humboldt erzählt. Dabei werden das Verhältnis und die Unterscheidung von Geschichte- und Geschichtenerzählen beleuchtet und schließlich jenseits des Vermessens, also des Faktischen und Dokumentarischen, und der reinen Vernunft „ein spezifisch ästhetisches Erkenntnispotential von Literatur“95 aufgezeigt.

Bereits durch die ersten zwei Sätze der Vermessung wird die Verbindung von Geschichte und Geschichten aufgemacht: Wie bereits betrachtet, beginnt die Erzählung zwar in sachlich-faktischem Ton, der den Eindruck historischen Erzählens erweckt und an das Genre des historischen Romans erinnert. Doch bereits durch die Beschreibung des Professors als der „größte Mathematiker des Landes“ (V 7) zeigt, dass sich die Erzählung einer einfachen Einordnung zum historischen Roman entzieht. Der Vermessung geht es nicht darum, detail- und ‚wahrheits‘-getreu die Lebensläufe zweier Forscher nachzuziehen, wenngleich sie zwei Figuren zeigt, dessen Bilder als Konstrukt von Geschichtsschreibung und Literatur dem kollektiven Gedächtnis angehören. Diese Bilder sind jedoch ebenso konstruiert wie Geschichte selbst und in einem Prozess entstanden – dass dieser Prozess jedoch nicht abgeschlossen ist, beweist die Erzählung, denn „verhandelt werden auch immer die fraglichen Relationen von Zeitgeschichte und Gegenwart“96. In der Erzählung werden stets Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verknüpft. Vor allem Gauß ist diese Verbindung bewusst; er weiß um den technischen Fortschritt, aber auch darum, dass, geprägt durch die Vergangenheit, jegliche Bereiche des menschlichen Lebens beeinflusst werden:

Seltsam sei es und ungerecht, sagte Gauß, so recht ein Beispiel für die erbärmliche Zufälligkeit der Existenz, daß man in einer bestimmten Zeit geboren und ihr verhaftet sei, ob man wolle oder nicht. Es verschaffe einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und mache einen zum Clown der Zukunft.

Eugen nickte schläfrig.

Sogar ein Verstand wie der seine, sagte Gauß, hätte in frühen Menschheitsaltern oder an den Ufern des Orinoko nichts zu leisten vermocht, wohingegen jeder Dummkopf in zweihundert Jahren sich über ihn lustig machen und absurden Unsinn über seine Person erfinden könne.

V9

Vor dem Hintergrund der Aufklärung, des Glaubens an die Vernunft, aber auch der Weimarer Klassik, werden neben dem Verständnis von Welt als vernünftiger und messbarer und somit erklärbarer Einheit weitere Möglichkeiten, die Welt zu erklären, angeboten. Durch die Erfahrungen von Humboldt und Gauß wird deutlich, dass erst ein Nebeneinander von Erklärungsmodellen die Möglichkeit bietet, der Wirklichkeit so nahe wie möglich zu kommen. Schließlich vermögen weder Gauß noch Humboldt, die Vermessung der Welt abzuschließen und die Welt und Wirklichkeit so umfassend zu beschreiben. Auf den Konstruktcharakter von Realität weisen Humboldt und Gauß explizit hin (vgl. V 135f., V 268). So konstruieren auch Bonpland und Humboldt ihre Realität. Bei der Besteigung des Chimborazo wägen die Männer die ‚wirklichen‘ Geschehnisse ab:

Man könnte, sagte Bonpland, auch einfach behaupten, man wäre oben gewesen.

Humboldt sagte, er wolle das nicht gehört haben. […]

Überprüfen könne es ja keiner, sagte Humboldt nachdenklich.

Eben, sagte Bonpland.

Er habe das nicht gesagt, rief Humboldt.

Was gesagt, fragte Bonpland.

V 177f.

Sie beide, sagte Humboldt, hätten den höchsten Berg der Welt bestiegen. Das werde bleiben, was auch immer in ihrem Leben noch geschehe.

Nicht ganz bestiegen, sagte Bonpland.

Unsinn! Wer einen Berg besteige, erreiche die Spitze. Wer die Spitze nicht erreiche, habe den Berg nicht bestiegen.

V 179

Und tatsächlich, anstatt zu berichten, was ‚wirklich‘ geschehen war, akzeptiert Humboldt die konstruierten Gegebenheiten als wahr: „In der Nacht schrieb Humboldt […] zwei Dutzend Briefe, in denen er Europa die Mitteilung machte, daß von allen Sterblichen er am höchsten gelangt sei.“ (V 180) Somit wird auch auf den Konstruktcharakter von Geschichte hingewiesen, da Humboldts Briefe später in der Zeitung veröffentlicht und gelesen werden (vgl. V 87, 151f.). Sieht sich Humboldt jedoch Phänomenen oder Erscheinungen ausgesetzt, für die er keine vernünftige Erklärung finden kann, hat er eine ganz eigene Art, damit zu umzugehen:

Er beschloß, nichts darüber aufzuschreiben.

V 45

Er entschied, die Ereignisse […] so zu beschreiben, wie sie sich hätten abspielen sollen […].

V 108

Humboldt versucht nicht, eine Erklärung zu finden. Eine andere Verbindung zum Thema Geschichte stellt Schilling her. Er sieht in der „ironisierte[n] Rolle der Realhistorie für die Figuren“ eine „Brechung der historischen Illusion“97: Vor allem Gauß ist sich der historischen Ereignisse nicht bewusst, was nach Schilling „zur Distanzierung von der Realhistorie und somit von der historischen Illusion des traditionellen oder populären historischen Romans bei[trägt]“98. Und wirklich, wie im Kapitel zur Parodie dargestellt werden wird, spielt die Vermessung unter anderem mit den Konventionen des historischen Romans. Die Erzählung bettet die Geschehnisse jedoch ins 19. Jahrhundert ein, und bietet somit eine Kontrastfläche, vor der das Erzählen im 21. Jahrhundert reflektiert werden kann. Vor dem Hintergrund fiktionalisierter historischer Figuren und fiktiver Ereignisse geht es in der Vermessung nicht darum, Geschichte und Geschichtsschreibung radikal zu kritisieren. Vielmehr geht es darum, über Überlegungen der Darstellung und Darstellbarkeit geschichtlicher Figuren und Ereignisse zu Reflexionen über Literatur zu gelangen, und die Möglichkeiten des Erzählens im 21. Jahrhundert auszuloten. Beide Forscher, Gauß und Humboldt, zeichnen sich durch eine „Erzählfeindlichkeit“99 aus, zumindest ist ihnen das Erzählen fremd. Während Gauß sich zu verschiedenen Zeitpunkten explizit dazu äußert, wird es bei Humboldt vor allem durch seine eigenen Erzählversuche verdeutlicht. Humboldt, „[i]hm selbst habe Literatur ja nie viel gesagt“ (V 221), und seine Erzählungen finden beim Publikum keinen Anklang:

[Humboldt] erzählte gut, bloß verlor er sich immer wieder in Fakten: Er berichtete so detailliert über Ströme und Druckschwankungen, über das Verhältnis von Höhenlage und Vegetationsdichte, über die feinen Unterschiede der Insektenarten, daß mehrere Damen zu gähnen begannen. Als er sein Notizbuch hervorholte und anfing, Meßergebnisse vorzutragen, versetzte Bonpland ihm unter dem Tisch einen Tritt.

V 212

Sein lang erwarteter Reisebericht habe das Publikum enttäuscht: Hunderte Seiten voller Meßergebnisse, kaum Persönliches, praktisch keine Abenteuer. Ein tragischer Umstand, der seinen Nachruhm schmälern werde. Ein berühmter Reisender werde nur, wer gute Geschichten hinterlasse. Der arme Mann habe einfach keine Ahnung, wie man ein Buch schreibe! Jetzt sitze er in Berlin, baue eine Sternwarte, habe tausend Projekte und gehe dem ganzen Stadtrat auf die Nerven.

V 239

Auch in Südamerika wird deutlich, dass Humboldts Verständnis von ‚Erzählen‘ nicht mit dem der anderen Mitreisenden übereinstimmt:

Mario bat Humboldt, auch einmal etwas zu erzählen.

Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt und schob seinen Hut zurecht, den der Affe umgedreht hatte. Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.

Alle sahen ihn an.

Fertig, sagte Humboldt.

Ja wie, frage Bonpland.

Humboldt griff nach dem Sextanten.

Entschuldigung, sagte Julio. Das könne doch nicht alles gewesen sein. Es sei natürlich keine Geschichte über Blut, Krieg und Verwandlungen, sagte Humboldt gereizt. Es komme keine Zauberei darin vor, niemand werde zur Pflanze, keiner könne fliegen oder esse einen anderen auf. […] Und wenn er sich nicht irre, sagte Humboldt, habe jeder auf diesem Boot Arbeit genug!

V 127f.

Wie der Erzähler kommentiert, „erzählte [er] gut“ (V 212), das Problem seines Erzählens liegt jedoch in seinem Verständnis von Erzählen begründet: Vom Publikum in Europa wie von der geselligen Runde in Südamerika wird nach (kreativer) Ausgestaltung der bloßen Fakten verlangt. Sein ‚Erzählen‘ ist dokumentarisch und faktisch und wird so nicht als (gutes bzw. fesselndes) Erzählen angenommen. Demgegenüber steht die Erzählung, die Vermessung, selbst: Es sind keine „Hunderte Seiten voller Meßergebnisse, kaum Persönliches, praktisch keine Abenteuer“ (V 239), sondern das Gegenteil. Die Vermessung ist eine kurze Erzählung, die durch kleinere Abenteuer und Ausschnitte aus dem persönlichen Leben der Figuren und von den Unternehmungen der Forscher erzählt. Auch das Gespräch zwischen Humboldt und Pater Zea über das südamerikanische Erzählen beweist eine unterschiedliche Auffassung darüber, was Erzählen sein und können soll:

Durch das Fenster hörten sie die durcheinanderredenden Stimmen der Ruderer, die sich über den Verlauf der Geschichte nicht einigen konnten.

Er habe den Eindruck, sagte Humboldt, hier werde ununterbrochen erzählt. Wozu dieses ständige Herleiern erfundener Lebensläufe, in denen noch nicht einmal eine Lehre stecke?

Man habe alles versucht, sagte Pater Zea. Erfundene Geschichten aufzuschreiben sei in allen Kolonien verboten. Aber die Leute seien hartnäckig, und auch die heilige Macht der Kirche kenne Grenzen. Es liege am Land.

V 114

Auch Gauß hat seine eigenen Vorstellungen davon, was Literatur und der Künstler leisten sollten. Gauß, der sich „immer wieder wie eine nicht ganz gelungene Erfindung“ (V 282) vorkam, ist nicht nur wenig begeistert von dem Gedanken, dass „[sich] jeder Dummkopf in zweihundert Jahren […] über ihn lustig machen und absurden Unsinn über seine Person erfinden könne“ (V 9), vielmehr noch vergäßen Künstler seiner Ansicht nach ihre Aufgabe:

das Vorzeigen dessen, was sei. Künstler hielten Abweichungen für eine Stärke, aber Erfundenes verwirre die Menschen, Stilisierung verfälsche die Welt. Bühnenbilder etwa, die nicht verbergen wollten, daß sie aus Pappe seien, englische Gemälde, deren Hintergrund in Ölsauce verschwimme, Romane, die sich in Lügenmärchen verlören, weil der Verfasser seine Flausen an die Namen geschichtlicher Personen binde.

Abscheulich, sagte Gauß.

V 221

Von einer Feier des Erzählens kann hier kaum gesprochen werden – stattdessen wünscht sich Gauß Klarheit und Eindeutigkeit, eben „das Vorzeigen dessen, was sei.“ (V 221) Dieser Forderung nach klarer Darstellung der Welt entspricht auch sein Bedürfnis, die Welt zu vermessen. Die Welt zu begreifen bedeutet für die Forscher, sie mittels Zahlen auszurechnen und zu vermessen, um sie so erklären zu können. Schließlich erweist sich die menschliche Wahrnehmung als unzuverlässig, wie nicht nur die Besteigung des Chimborazos beweist, sondern auch Humboldt selbst zu verstehen gibt: „Nichts sei zuverlässig, sagte [Humboldt] zu dem ihn aufmerksam beobachtenden Hund. Die Tabellen nicht, nicht die Geräte, nicht einmal der Himmel.“ (V 129) Keinesfalls, so wird dem Leser, nicht aber den Figuren deutlich, ist „die Vermessung der Welt fast abgeschlossen“ (V 238), wie Humboldt erklärt. Mittels der Erklärungsmuster der Figuren lässt sich nicht alles erklären, die Vermessung der Welt nicht abschließen. Letzten Endes müssen Gauß, wie auch Humboldt, ahnen, dass ihre Realität eine konstruierte ist. Während Humboldt erst spät eine Ahnung über seinen Status als Figur entwickelt, wird sie bei Gauß von Anfang an deutlich:

Warum er traurig war? […] Weil die Welt sich so enttäuschend ausnahm, sobald man erkannte, wie dünn ihr Gewebe war, wie grob gestrickt die Illusion, wie laienhaft vernäht ihre Rückseite. Weil nur Geheimnis und Vergessen es erträglich machten. Weil man es ohne den Schlaf, der einen täglich aus der Wirklichkeit riß, nicht aushielt.

V 59

Neben der Ahnung von der Welt als Illusion betont Gauß vielfach, er fühle sich „in die Welt geschickt“ (V 98), und als „hatte [man] sich über ihn lustig machen wollen“ (V 98). Es wird die Macht des Erzählers über ihn und über seine ‚Realität‘ erahnt. Deutlich wird das vor allem durch folgendes Zitat:

Bald würde all das eine Kleinigkeit sein. […] Aber ihm half das nicht, er mußte es jetzt tun, mit Maßband, Sextant und Theodolit, in lehmigen Stiefeln, mußte dazu noch Methoden finden, auf dem Weg reiner Mathematik die Ungenauigkeiten der Messung auszugleichen […].

V 191

Letzterer Satz liest sich gleichsam wie eine Anweisung des Erzählers an die Figur. Wieder lässt der Text wegen der fehlenden verba dicendi und des Präteritums die Auslegung offen, es könnte sich hierbei um eine Aussage des Erzählers handeln. Bevor schließlich Humboldt und Gauß miteinander über räumliche Distanzen kommunizieren, begreift auch Humboldt allmählich:

Ihm fiel ein, daß Gauß von einer absoluten Länge gesprochen hatte, einer Geraden, der nichts mehr hinzugefügt werden konnte und die sich, wiewohl endlich, so weit dehnte, daß jede mögliche Distanz nur ein Teil von ihr war. Für ein paar Sekunden, im Zwischenreich von Wachen und Schlaf, hatte er das Gefühl, daß diese Gerade etwas mit seinem Leben zu tun hatte und alles hell und deutlich wäre, wenn er nur begriffe, was. Die Antwort schien nahe.

V 280

Gerede und Geschwätz, flüsterte Humboldt in Ehrenbergs Ohr, keine Wissenschaft. Er müsse Gauß unbedingt sagen, daß er jetzt besser verstehe.

Ich weiß, daß Sie verstehen, antwortete Gauß. Sie haben immer verstanden, armer Freund, mehr, als Sie wußten. […] Also hat er mich doch nach all den Jahren überflügelt, sagte er, und ihm war, als antwortete nicht Minna, sondern der bereits in einer Schnellkutsche nach Sankt Petersburg rasende Humboldt: Die Dinge sind, wie sie sind, und wenn wir sie erkennen, sind sie genauso, wie wenn es andere tun oder keiner.

V 290f.

Schließlich kommunizieren die beiden Figuren miteinander, obwohl sie räumlich getrennt sind. Hierdurch demonstriert die Erzählung Gauß’ These über den Raum und Parallelen, dass es diese nämlich vielleicht nicht gebe: „Vielleicht lasse der Raum auch zu, daß man, habe man eine Linie und einen Punkt neben ihr, unendlich viele verschiedene Parallelen durch diesen einen Punkt ziehen könne. Nur eines sei sicher: Der Raum sei faltig, gekrümmt und sehr seltsam.“ (V 95f.) Die bisher weitgehend parallel geführten Erzählungen werden in dem Augenblick verbunden, in dem Humboldt zu begreifen beginnt. Diese Kommunikation endet in der Erkenntnis Gauß’ über das Ende der Erzählung:

Dieser Bonpland, hätte ihm der Professor wohl geantwortet, hatte allerdings Pech, aber können wir beide uns beklagen? Kein Kannibale hat Sie gegessen, kein Ignorant mich totgeschlagen. Hat es nicht etwas Beschämendes, wie leicht uns alles fiel? Und was jetzt geschieht, ist nur, was einmal geschehen mußte: Unser Erfinder hat genug von uns.

V 292

Hierdurch rückt wiederum der Erzähler ins Blickfeld, dessen Machtstellung immer wieder verdeutlicht wird:

Man hatte ihn in die Welt geschickt, mit einem Verstand, der fast alles Menschliche unmöglich machte, in eine Zeit, da jede Unternehmung noch schwer, anstrengend und schmutzig war. Man hatte sich über ihn lustig machen wollen.

V 98

Da nicht eindeutig markiert wird, wer spricht – „Man hatte sich über ihn lustig machen wollen“ (V 98) – bleibt es offen, ob der Erzähler kommentiert oder die Gedanken oder Worte der Figur wiedergibt. Der Text lässt beide Möglichkeiten zu und die Aussage kann doppelt gelesen werden: Entweder zeigt sich hierin erneut Gauß’ Bewusstsein über seinen Status als Figur, oder der Erzähler bestätigt Gauß’ anfänglich geäußerte Sorgen. Letztere Auslegung würde die Macht des Erzählers spiegeln, Gauß in diese schwere, anstrengende und schmutzige Zeit zu schicken.

Indem der Erzähler seine Figuren erahnen lässt, dass sie einer fiktiven Realität angehören, „ob man wolle oder nicht“ (V 9), zeigt er eine Alternative zum realistisch-faktischen Erzählen, das seine Figuren vertreten und fordern. Literatur, darin besteht ihr Potential, besitzt „eine Offenheit, die der Komplexität von Welt entspricht“100. Indem ein alternatives Erzählkonzept zum Realismus vorgestellt wird, das einen anderen Zugang zur Welterschließung bieten, und vor dem Hintergrund der metafiktionalen Anspielungen auf das Schreiben im 21. Jahrhundert, wird eine Rückkehr zum Erzählen gefordert.

Fußnoten

88 Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Stuttgart: Reclam 1982, S. 29.

89 Humboldt, Wilhelm von: Gesammelte Werke. Erster Band. Berlin: G. Reimer 1841, S. 1.

90 Vgl. Martinez, Matias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C. H. Beck 1999, S. 33. Wird im Folgenden im Fließtext mit der Sigle EE abgekürzt.

91 Vgl. Weidhase, Helmut; Kauffmann, Kai: Realismus. In: Burdorf, Dieter; Fasbender, Christoph; Moeninghoff, Burkhard (Hgg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart: J. B. Metzler 2007 S. 628-630.

92 Vgl. DE 124: „Hier liegt ein typisches Beispiel für eine externe Fokalisierung vor, da der Erzähler deutlich zu erkennen gibt, dass er sich über die wirklichen Gedanken des Helden im Unklaren ist.“

93 Rösch, Gertrud Maria: Clavis Scientiae: Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur. Tübingen: Max Niemeyer 2004, S. 158: „Leseranreden sind ein Element der Selbstreflexivität und damit wiederum für die Poetik der Romantik grundlegend“.

94 Direkt im Anschluss heißt es: „Als der Applaus zu Ende war, hatte Humboldt das Podium schon verlassen. Vor der Singakademie wartete eine Kutsche, die ihn ans Krankenbett seiner Schwägerin brachte. […] Sekunden später war sie tot.“ (V 263)

95 Herrmann: Vom Zählen und Erzählen, vom Finden und Erfinden (2012), S. 169.

96 Gerigk, Anja: Humoristisches Erzählen im 21. Jahrhundert. Gegenwärtige Tradition in Kehlmanns Vermessung der Welt und Krachts Imperium. In: Wirkendes Wort 64:3 (2014), S. 427-439, hier S. 439.

97 Schilling: Der historische Roman seit der Postmoderne (2012), S. 250.

98 Ebd.

99 Gasser, Markus: Das Königreich im Meer. Daniel Kehlmanns Geheimnis. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2013, S. 117.

100 Herrmann: Vom Zählen und Erzählen, vom Finden und Erfinden (2012), S. 171.

Siglenverzeichnis

Ä | Wolf, Werner: Ästhetische Illusion und Illusionsbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. Tübingen: Max Niemeyer 1993.

DE | Genette, Gérard: Die Erzählung. 3., durchgesehene und korrigierte Auflage. Paderborn: Wilhelm Fink 2010.

DE | Genette, Gérard: Die Erzählung. 3., durchgesehene und korrigierte Auflage. Paderborn: Wilhelm Fink 2010.

DK | Rickes, Joachim: Daniel Kehlmann und die lateinamerikanische Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012.

EE | Martinez, Matias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C. H. Beck 1999.

FE | Scheffel, Michael: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. Tübingen: Max Niemeyer 1997.

FFL | Gass, William Howard: Fictions and the Figures of Life. 2. Auflage. Boston: Godine 1980.

FM | Scholes, Robert: Fabulation and Metafiction. Urbana: University of Illinois Press 1979.

FS | Wolf, Werner: Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst. Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur ‚mise en cadre‘ und ‚mise en reflet/série‘. In: Helbig, Jörg (Hg.): Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger. Heidelberg: Universitätsverlag WINTER 2001, S. 49-84.

HM | Hutcheon, Linda: Historiographic Metafiction. Parody and Intertextuality of History. In: O’Donnell, Patrick; Davis, Robert Con (Hgg.): Intertextuality and Contemporary American Fiction. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1989, S. 3-32. Online verfügbar unter: http://hdl.handle.net/1807/10252. [Zuletzt abgerufen am 20. August 2015 um 11:58 Uhr.]

M | Waugh, Patricia: Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction. London: Methuen 1984.

ME | Sprenger, Mirjam: Modernes Erzählen. Metafiktion im deutschsprachigen Roman der Gegenwart. Stuttgart: J. B. Metzler 1999.

MR | Zimmermann, Jutta: Metafiktion im anglokanadischen Roman der Gegenwart. Trier: WVT 1996.

NN | Hutcheon, Linda: Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox. New York: Methuen 1984.

PM | Alter, Robert: Partial Magic. The Novel as a Self-Conscious Genre. Berkeley: University of California Press 1975.

V | Kehlmann, Daniel: Die Vermessung der Welt. 12. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2005.