4. Der Text:

Intertextualität,

Parodie und Ironie

Bei der zweiten Konstituente des literarischen Kommunikationsaktes, dem Text, können metafiktionale Strategien explizit als mise en abyme und Roman im Roman, oder implizit durch intertextuelle Verweise auftreten. Letztere können sowohl in der Form von Parodie und Ironie vorliegen, als auch in Form der Verwendung von Mythen und anderen archetypischen Erzählmustern. In der Vermessung werden nicht nur diverse historische Persönlichkeiten zu Figuren, darüber hinaus finden sich im Roman vielfältige intertextuelle Verweise. Diese liegen als direkte Referenz auf andere Texte vor, aber auch in Form von Parodie und Ironie. Während sich die Parodie vor allem auf die Gattung des historischen Romans und die Biografie beziehen, werden vor allem der Titel des Romans, ‚das‘ Deutschsein und die Aufklärung ironisch betrachtet. Auch hierbei wird wiederum das Verhältnis von Geschichte- und Geschichtenerzählen thematisiert.

4.1    Intertextualität: Von Goethe und dem magischen Realismus

Metafiktional sind intertextuelle Verweise, wenn sie „über fiktionale Prozesse reflektieren, indem sie Texte in erster Linie in ihrer Beziehung und ihrer Abhängigkeit zu anderen Texten darstellen und dem Leser somit diese Abhängigkeiten vor Augen führen.“ (MR 40) Intertextualität meint den „Bezug zwischen einem Text und anderen Texten“101, der sich auf die Trias Text, Autor und Leser stützt.102 Um es mit Broich und Pfister noch einmal detaillierter zu beschreiben: Intertextualität ist ein

Oberbegriff für jene Verfahren eines mehr oder weniger bewußten und im Text selbst auch in irgendeiner Weise konkret greifbaren Bezugs auf einzelne Prätexte, Gruppen von Prätexten oder diesen zugrundeliegenden Codes und Sinnsystemen, wie sie die Literaturwissenschaft unter Begriffen wie Quellen und Einfluß, Zitat und Anspielung, Parodie und Travestie, Imitation, Übersetzung und Adaption bisher schon behandelt hat und wie sie nun innerhalb des neuen systematischen Rahmens prägnanter und stringenter definiert und kategorisiert werden sollen.103

Für die metafiktionale Qualität intertextueller Verweise hält Hutcheon fest, dass Intertextualität zugleich Kontext schafft und untergräbt (vgl. HM 8), und auch der Leser wird wieder gefordert: „The reader is forced to acknowledge not only the inevitable textuality of our knowledge of the past, but also both the value and the limitation of that inescapably discursive form of knowledge, situated as it is ‘between presence and absence’ (Barilli).“ (HM 8)

Die Vermessung erzählt auf inhaltlicher Ebene nicht nur von der Vermessung der Welt mittels wissenschaftlicher Methoden, die Gauß und Humboldt auf verschiedene Weisen vornehmen, sondern kann auf metafiktionaler Ebene auch als eine Vermessung der deutschen und internationalen Literatur(geschichte) gesehen werden. Diese geschieht vor allem mittels unterschiedlicher intertextueller Verweise, die den gesamten Text durchziehen. Bevor zwei wichtige intertextuelle Verweise näher betrachtet werden, soll an dieser Stelle zunächst auf verschiedene andere Intertexte hingewiesen werden, deren Betrachtung allein sicherlich eine eigene Arbeit füllen können. Aus dem US-amerikanischen Sprachraum werden vor allem zwei Intertexte hervorgehoben. Tippelskirch verweist auf Parallelen bzw. „direct correspondences“ zwischen E. L. Doctorows Ragtime (1975) und der Vermessung: „By the same token, Kehlmann’s two protagonists display variations on the same theme.“104 Eine andere augenfällige Beziehung bestehe, so bemerken u.a. Ireton und Petras, zu Mason & Dixon (1997) von Thomas Pynchon: „Die Vermessung der Welt rekurriert in Figurenkonstellation und Thematik auf Thomas Pynchons Mason & Dixon.“105 Abgesehen davon kritisiere die Vermessung in ähnlicher Weise wie Pynchons „metafictional history“, so legt Ireton dar, „eighteenth-century instrumental reason, which manifests itself in the urge to measure, chart, and demarcate the world.“106 Daneben liest Tippelskirch in der Vermessung eine Antwort auf Walter Benjamin, indem Kehlmann die Tradition der mündlichen Erzählung wieder aufleben lässt, und zwar „by using a rare literary technique extensively; the dialogues between the novel’s protagonists are presented in indirect speech.“107 Das „mathematische Denken über Raum und Zeit“108 in der Vermessung erinnert Anderson an Kafka, und auch zu Musil sieht er eine Verbindung. Abgesehen vom Erzählton und dem Ausdruck, erinnere auch die Auswahl der Hauptfiguren an Musil, denn diese würden „die Realität als einen nicht abgeschlossenen Bereich von Möglichkeiten sehen und ständig versuchen, ihre Wahrnehmungs- und Ausdrucksgrenzen zu erweitern.“109

Der erste explizite intertextuelle Verweis findet sich im Kapitel „Das Meer“, wenn Klopstocks Der Eislauf (1764) erwähnt wird. Humboldt und sein älterer Bruder „gingen durch den Schloßpark“ (V 23) zu einem Teich. Nachdem der Ältere seine Sorgen um den Bruder mitteilt – „[s]eine schweigsame Art, seine Verschlossenheit. Die schleppenden Erfolge im Unterricht“ (V 24) –, macht er ihn auf die Eisschicht auf dem Teich aufmerksam. Auf dem Weg zur Mitte des Sees, kurz bevor Humboldt einbricht, „überlegte [er], ob er Klopstocks Eislaufode rezitieren sollte.“ (V 24) Wie unter anderem auch Eichinger anmerkt,110 sind folgende Strophen der Ode Klopstocks besonders relevant:

Sonst späht dein Ohr ja alles; vernim,
Wie der Todeston wehklagt auf der Flut!
O, wie tönts anders! wie hallts, wenn der Frost
Meilen hinab spaltet den See!

Zurück! laß nicht die schimmernde Bahn
Dich verführen, weg vom Ufer zu gehn!
Denn wo dort Tiefen sie deckt, strömts vielleicht,
Sprudeln vielleicht Quellen empor.

Den ungehörten Wogen entströmt,
Dem geheimen Quell entrieselt der Tod!
Glittst du auch leicht, wie dieß Laub, ach dorthin;
Sänkest du doch, Jüngling, und stürbst!111

Mit Blick auf Humboldts Einbruch in das Eis und seinem knappen Überleben, hätte die Ode ihm als Warnung dienen können. Es bleibt jedoch offen, warum Humboldt die Ode nicht rezitiert und ob die Rezitation ihn gerettet hätte. Deutlich wird jedoch, dass Humboldt sein gewonnenes Wissen seiner Ausbildung nicht zu nutzen weiß.

Der nächste vielfach bemerkte explizite intertextuelle Verweis findet sich im sechsten Kapitel des Buchs, „Der Fluß“. In Bezug auf den Umfang ist es das längste Kapitel, was auf seine Wichtigkeit hindeutet. Humboldt und Bonpland treffen in Südamerika nicht nur auf die vier Ruderer, die nachfolgend näher betrachtet werden, sondern auch auf Pater Zea. Hier treffen verschiedene Konzepte des Erzählens und der Kultur des Erzählens aufeinander. Ein expliziter intertextueller Verweis findet sich gegen Ende des Kapitels. Dort heißt es:

Mario bat Humboldt, auch einmal etwas zu erzählen.

Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt und schob seinen Hut zurecht, den der Affe umgedreht hatte. Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.

Alle sahen ihn an.

Fertig, sagte Humboldt.

Ja wie, frage Bonpland.

Humboldt griff nach dem Sextanten.

Entschuldigung, sagte Julio. Das könne doch nicht alles gewesen sein. Es sei natürlich keine Geschichte über Blut, Krieg und Verwandlungen, sagte Humboldt gereizt. Es komme keine Zauberei darin vor, niemand werde zur Pflanze, keiner könne fliegen oder esse einen anderen auf. […] Und wenn er sich nicht irre, sagte Humboldt, habe jeder auf diesem Boot Arbeit genug!

V 127f.

Mit dem „schönste[n] deutsche[n] Gedicht“ (V 128) ist Ein Gleiches aus dem Jahr 1780 gemeint, verfasst von Johann Wolfang von Goethe. Dieses liest sich in Gegenüberstellung zur zitierten Textstelle wie folgt:

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.112
Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein. (V 127f.)

Gasser argumentiert, diese Textstelle zeige, dass „das Erzählen […] verhasst [ist]“113. Auf metafiktionaler Ebene geschieht jedoch mehr. Rickes hat auf die Technik der ‚doppelten Optik‘ in den Werken Kehlmanns hingewiesen, was „den gleichzeitigen Bezug auf sehr unterschiedliche Lesergruppen, auf die breite Leserschaft wie die wenigen Kenner, die z.B. philosophisch, musiktheoretisch oder kunsthistorisch versiert sind“114, meint. Dies zeigt sich an obigem Zitat: Auf einer ersten Ebene wird hier humoristisch ein stereotypes Bild vom langweiligen Deutschen gezeichnet, der nicht in der Lage ist, unterhaltend zu erzählen. Auf einer darüber liegenden Ebene wird der Rezipient mit seinem Wissen gefordert. Durch die indirekte Rede verliert das Gedicht im Text bereits seine Spezifika, sodass der Text offen lässt, ob Humboldts Zuhörer wegen des Gedichts an sich oder wegen Humboldts Art des Vortragens irritiert sind. Hier treffen drei Kulturen aufeinander: Deutschland, Frankreich und Südamerika; für das Erzählen scheint jeweils ein unterschiedliches Verständnis vorzuliegen. Daneben jedoch wird mittels des Gedichts wiederum die Thematik des Todes aufgeworfen, die Humboldt und Gauß die gesamte Erzählung hindurch beschäftigt, denn beide Männer sind mit dem Prozess des Alterns konfrontiert und finden unterschiedliche Wege, damit umzugehen.

Einerseits bewirkt der Einsatz dichter intertextueller Verweise, wie Gerstenbräun argumentiert, eine Steigerung der „Authentizität der diegetischen Wirklichkeit.“115 Dem aufgerufenen historischen Kontext wird somit eine unterliegende Tiefe mit Verbindungen zur Historie gegeben. Andererseits wird mittels der Referenz auf zwei Gedichte, die von den historischen Persönlichkeiten Goethe und Klopstock verfasst worden sind, auf die Gemachtheit des Textes verwiesen, insbesondere da ersterer als Figur im Roman auftritt.

In demselben Kapitel wird aber nicht nur auf Goethe verwiesen, sondern auch auf einen weiteren wichtigen Einfluss für Kehlmanns Werke, auf vier Vertreter südamerikanischer Literatur, vor allem des magischen Realismus. Wie in der Forschung bereits mehrfach herausgestellt worden ist, sind die vier Ruderer Carlos, Gabriel, Mario und Julio (vgl. V 106), die Humboldt und Bonpland auf ihrer Reise behilflich sind, als Referenz auf die Schriftsteller Carlos Fuentes (*1928), Gabriel García Márquez (*1927), Mario Vargas Llosa (*1936), Julio Cortázar (*1914 †1984) zu verstehen.116 Unter magischem Realismus versteht man

jene Eigentümlichkeit der lateinamerikanischen Literatur, das Wunderbare vollkommen natürlich in die Wirklichkeit zu integrieren und – meist in begrenztem Umfang – z.B. Verwandlungen in Tiere oder Pflanzen, Geistererscheinungen oder Gedankenübertragungen ohne sog. Markierung in das Handlungsgeschehen einzubeziehen.

DK 73

Neben den diversen Geistererscheinungen im Roman (vgl. u.a. V 74), die nicht ohne Humor erzählt werden, deutet sich bei Humboldt und Gauß aber auch eine Gedankenübertragung an, die im vorletzten Kapitel des Buchs stattfindet. Eingeleitet wird das durch Humboldts Gedanken während seines Aufenthalts in Russland:

Er stand auf, doch während seiner etwas konfusen Tischrede dachte er an Gauß. Dieser Bonpland, hätte ihm der Professor wohl geantwortet, hatte allerdings Pech, aber können wir beide uns beklagen? Kein Kannibale hat Sie gegessen, kein Ignorant mich totgeschlagen. Hat es nicht etwas Beschämendes, wie leicht uns alles fiel? Und was jetzt geschieht, ist nur, was einmal geschehen mußte: Unser Erfinder hat genug von uns.

V 292

Die indirekte Rede geht in eine direkte Ansprache über, die wiederum nicht eindeutig markiert wird. Im Anschluss an diese Passage wird der Blick auf Gauß gerichtet:

Er dachte an Humboldt. Gern hätte er ihm eine gute Rückkehr gewünscht, aber am Ende kam man nie gut zurück, sondern jedesmal ein wenig schwächer, und zuletzt gar nicht mehr. Vielleicht gab es ihn ja doch, den lichtlöschenden Äther. Aber natürlich gebe es ihn, dachte Humboldt und seiner Kutsche, er habe ihn ja dabei, in einem der Fuhrwerke, nur erinnere er sich nicht mehr, wo, es seien Hunderte Kisten, und er habe den Überblick verloren.

V 292

Wie Rickes herausstellt, zeigt sich an derartigen Passagen Kehlmanns gebrochener Realismus, indem „eine – mitunter kaum merkliche – Markierung der Ungewissheit“ (DK 87) vorgenommen wird, wodurch sich der Text einer eindeutigen Zuordnung zum magischen Realismus verweigert. Im Text wird die Möglichkeit von Gedankenübertragung Gauß vermittelt:

Die Wahrheit sei sehr unheimlich: Der Satz, daß zwei gegebene Parallelen einander niemals berührten, sei nie beweisbar gewesen, nicht durch Euklid, nicht durch jemand anderen. Aber er sei keineswegs, wie man immer gemeint habe, offensichtlich! Er, Gauß, vermute nun, daß der Satz nicht stimme. Vielleicht gebe es keine Parallelen. Vielleicht lasse der Raum auch zu, daß man, habe man eine Linie und einen Punkt neben ihr, unendlich viele verschiedene Parallelen durch diesen einen Punkt ziehen könne. Nur eines sei sicher: Der Raum sei faltig, gekrümmt und sehr seltsam.

V 95f.

In der Vermessung werden in den Kapiteln zwei bis zehn parallel zueinander die Lebensläufe der Figuren Humboldt und Gauß erzählt. Im Laufe der Erzählung jedoch, parallel zu Gauß’ Entdeckungen zum Raum, werden auch die bisher parallel geführten, wenn auch losen, Handlungsstränge zusammengeführt und enden schließlich in oben zitierter Gedankenübertragung. Auf der Ebene der Erzählung wird also die These des Professors anhand der Figuren Humboldt und Gauß ausgetestet. Daneben ist es interessant, die vier Schriftsteller genauer zu betrachten, vor allem in Hinblick auf die metafiktionalen Aspekte in der Vermessung und den Einbezug von Aspekten des magischen Realismus. Fuentes’ Erzählungen zeichnen sich durch „die Intentionalität barocker, geradezu monstruöser Intertextualität“117, „Fragmenttechnik und den variablen Erzählerstandpunkt“118 aus, während bei Vargas Llosa „Realität – auch die selbst erlebte – […] durch den Akt des Schreibens vernichtet [wird], um im fertigen Werk neu geschaffen zu werden.“119 Diese Tendenz zeigt sich auch in der Vermessung. Auch lässt sich bei Vargas Llosa seit La tía Julia y el escribidor (1977) „eine steigende Tendenz zur erzählerischen Reflexivität“120 feststellen. García Márquez, „der gegenwärtig als der weltweit meistgelesene spanischsprachige Autor seit Cervantes gilt“, „verarbeitet das Erbe des Criollismo und des Magischen Realismus, löst den Konflikt zwischen prämodernen Formen der Mündlichkeit und modernen Schrifttraditionen“121. Cortázar letztlich, der als der „wichtigste[] Vertreter der phantastischen Kurzgeschichte in der Generation nach Borges“122 gilt, reagierte „auf den Wandel der kulturellen Werte mit neuen Formen der Wirklichkeitsdarstellung […]. […] Ein weiteres Leitmotiv dieses Zeitraums war der Zweifel an der sprachlichen Vermittelbarkeit von Wirklichkeit.“123 Rickes, der die Beziehung von Kehlmann zur südamerikanischen Literatur untersucht hat, sieht vor allem zu Cortázar eine enge Verbindung: „Bei Cortázar wie Kehlmann geht es um das Verhältnis von dargestellter Realität und Fiktionalisierung, um die Ungewissheit darüber, was Wirklichkeit und was Fiktion ist.“ (DK 19) Die Referenz auf diese Schriftsteller beschränkt sich also nicht nur auf den magischen Realismus, sondern auch auf die erzähltechnischen Mittel, die in der Vermessung selbst angewandt werden, wie etwa Intertextualität oder die Auseinandersetzung mit der Relation von Fakt und Fiktion. Mit der Referenz auf die Schriftsteller weist der Text also auf seine eigenen Techniken hin. Die Gegenüberstellung südamerikanischer und deutscher Erzählweisen verweist jedoch noch auf einen anderen Aspekt. Humboldt bewegt sich souverän auf dem Fluss und auf dem Meer, benötigt jedoch die Hilfe der erfahrenen Ruderer. In konsequenter Übertragung lässt sich festhalten: Wenn in den Ruderern realhistorische Schriftsteller zu erkennen sind, wird auf einer Metaebene deutsche Literatur thematisiert: Humboldt, der exemplarisch für eine Richtung der deutschen Literatur steht, weiß zwar in beinahe sachlichem Ton ein Gedicht vorzutragen, aber seine Vorstellungskraft nicht zu nutzen, um zu erzählen. Zwar scheint er nicht wenig über Literatur und Erzähltechniken zu verstehen,124 kann sie jedoch nicht schöpferisch in eigene Erzählungen umsetzen. Zusammengenommen erinnert dieses fast faktische Erzählen in Abgrenzung zum magischen Realismus an das realistische Erzählen der Literatur nach 1945, von der sich also in diesem Sinne abgegrenzt wird: Mit Rickes kann Humboldt als Vertreter deutscher Literatur verstanden werden, eine

faktenorientierte, Realismus-versessene, phantasie- und erzählfeindliche deutsche Literatur […]. Insofern erweist sich die Einführung des Schriftsteller-Pendants Humboldt als wohldurchdacht und lässt zugleich eine kritische Sicht auf die jüngere deutsche Literatur erkennen. Schärfer formuliert, wird im sechsten Kapitel von ‚Die Vermessung der Welt‘ poetisch Gericht gehalten über die Fehlentwicklung der deutschen Literatur nach 1945. Das Urteil fällt eindeutig negativ aus: […] insgesamt […] hat die Realismus-fixierte Nachkriegsliteratur in zweifacher Hinsicht den Anschluss verloren. Zum einen fehlt ihr die erzählerische Kraft der großen Autoren Lateinamerikas, zum anderen ist der Zugang zum eigenen literarischen Erbe verloren gegangen.

DK 76f.

Ähnlich wie Eugen Deutschland verlässt, um, wenn auch nicht allzu freiwillig, sein Glück in Amerika zu finden, muss sich auch, so zeigt die Vermessung, die deutsche Literatur von der Abkehr vom Erzählen hin zum Erzählen bewegen.

Analog zu den dichten intertextuellen Verweisen zeichnet sich der Text durch ebenso zahlreich gestreute intratextuelle Verweise aus. Sicherlich kann Gerstenbräun zugestimmt werden, wenn er argumentiert, Intratextualität diene in der Vermessung der Unterstützung der Plotentwicklung und der Steigerung der Authentizität der Diegese.125 Daneben jedoch wird durch die intratextuellen Verweise vielfach eine Verbindung der Leben von Gauß und Humboldt hergestellt. So beispielsweise äußern Humboldt wie Gauß ihre Ansichten zum Gedanken vom Menschen als Maschine:

Ein Buch, das ihr der jüngere geschenkt hatte, kam ungelesen zurück: L’homme machine von La Mettrie. […] Es sei ein bemerkenswertes Buch. Der Autor behaupte ernstlich, der Mensch sei eine Maschine, ein automatisch agierendes Gestell von höchster Kunstfertigkeit. […]

Nein, widersprach der Jüngere. Mit Seele. Mit Ahnungen und poetischem Gespür für Weite und Schönheit. Doch sei diese Seele selbst nur ein Teil, wenn auch der komplizierteste, der Maschinerie. Und er frage sich, ob das nicht der Wahrheit entspreche.

Alle Menschen Maschinen?

Vielleicht nicht alle, sagte der Jüngere nachdenklich. Aber wir. (V 23)
Lange hatte er gemeint, daß die Leute Theater spielten oder einem Ritual anhingen, das sie verpflichtete, immer erst nach einer kurzen Pause zu sprechen oder zu handeln. Manchmal konnte er sich anpassen, dann wieder war es nicht auszuhalten. Erst allmählich kam er dahinter, daß sie diese Pausen brauchten. Warum dachten sie so langsam, so schwer und mühevoll? Als würden Gedanken von einer Maschine hervorgebracht, die man zuvor anwerfen und in Gang kurbeln mußte, als wären sie nicht lebendig und bewegten sich von selbst. Ihm fiel auf, daß man sich ärgerte, wenn er die Pausen nicht einhielt. Er tat sein Bestes, aber oft gelang es ihm nicht. (V 54)

Es wird deutlich, dass Humboldt und Gauß als Konstrastfigur zum jeweils anderen konzipiert sind. Humboldt äußert den Gedanken im Gespräch mit seinem Bruder, worin womöglich ein Verweis auf sein straffes Bildungsprogramm liegt. Während es ihn nachdenklich stimmt, er aber den Gedanken vom Menschen als Maschine durchaus nicht abzulehnen scheint, scheint es bei Gauß das Gegenteil zu sein. Die dichten intratextuellen Verweise in der Vermessung unterstützen daneben aber auch vielfach Gauß’ Theorie, „[d]aß alle Parallelen einander berührten.“ (V 67) So sind die Leben von Humboldt und Gauß bereits früh miteinander in Berührung gekommen:

Auf dem Heimweg sahen die Brüder eine zweite, nur wenig größere Silberscheibe neben dem gerade aufgegangenen Mond. Ein Heißluftballon, erklärte der ältere. Pilâtre de Rozier, der Mitarbeiter der Montgolfiers, weile zur Zeit im nahen Braunschweig. Die ganze Stadt rede davon. Bald würden alle Menschen in die Luft steigen.

Aber sie würden es nicht wollen, sagte der Jüngere. Sie hätten zuviel Angst. (V 28)

Vor Jahren habe er den ersten Ballon über Deutschland gesehen, sagte Humboldt. Glücklich, wer damals geflogen sei. Als es gerade kein Wunder mehr gewesen sei und noch nichts Irdisches. Wie die Entdeckung eines neuen Sterns. (V 199)
Bald darauf kam Pilâtre de Rozier in die Stadt. Gemeinsam mit dem Marquis d’Arland war er in einem Korb, welchen die Montgolfiers an einem mit Heißluft gefüllten Beutel befestigt hatten, fünfeinhalb Meilen über Paris geflogen. (V 63)

Am nächsten Morgen klopfte jemand an seine Tür. Ein Junge stand draußen, sah mit aufmerksamen Augen zu ihm auf und fragte, ob er mitfliegen dürfe. […] Das sei sonst nicht seine Art […]. Aber sein Name sei Gauß, er sei nicht unbekannt, und in Kürze werde er so große Entdeckungen machen wie Isaac Newton. […] [Pilâtre] überlegte eine Weile. Na gut, sagte er schließlich, wenn es um die Sterne gehe! (V 64f.)

Nie mehr hinab. Hinauf und weiter hinauf, bis kein Land mehr unter ihnen wäre. Eines Tages würden das Menschen erleben. Dann würde jeder fliegen, als wäre es normal, aber dann würde er tot sein. (V 66)

Zwar werden in beiden Fällen Zukunftsprognosen getroffen, die auf dasselbe zielen („Bald würden alle Menschen in die Luft steigen“, V 28; „Dann würde jeder fliegen“, V 66), im ersten Fall jedoch ist es Humboldts älterer Bruder, der die Vermutung äußert. So werden erneut die Ansichten Humboldts und Gauß’ kontrastiert. An anderer Stelle liest Gauß von Humboldt, dessen Brief es tatsächlich in die Zeitung, die Göttinger Gelehrten Anzeigen, geschafft hat:

Mit Bonpland bewohnte er ein weißes Holzhaus am Rand der erst kürzlich von einem Beben beschädigten Stadt. […] Abends aßen sie beim Gouverneur, danach wurde gebadet. Stühle wurden ins Flußwasser gestellt, in leichter Kleidung setzte man sich in die Strömung. (V 69)

Häufig kamen Frauen zu Besuch: Humboldt zählte die Läuse in ihren geflochtenen Haaren. (V 70)

In einer Mission lebten getaufte Indianer in Selbstverwaltung. […] Sie waren nackt, trugen nur einzelne Kleidungsstücke […]. (V 71)

Es kämen große Tage, sagte Humboldt. Vom Orinoko zum Amazonas. […] Zur angekündigten Nachmittagsstunde verlosch die Sonne. (V 79)
Er aß ein Stück trockenen Kuchen und las in den Göttinger Gelehrten Anzeigen den Bericht eines preußischen Diplomaten über dessen Bruders Aufenthalt in Neuandalusien. Ein weißes Haus am Rand der Stadt, abends kühlte man sich im Fluß, Frauen kamen häufig zu Besuch, damit man ihre Läuse zählte. In unbestimmter Erregung blätterte er um. Nackte Indianer in der Kapuzinermission, in Höhlen lebende Vögel, die mit ihren Stimmen sahen wie andere Wesen mit dem Augenlicht. Die große Sonnenfinsternis, dann der Aufbruch zum Orinoko. Der Brief des Mannes war eineinhalb Jahre unterwegs gewesen, nur Gott mochte wissen, ob er noch lebte. […] Dieser Mann, sagte er, beeindruckend! (V 87)

Der Bericht in der Zeitung ist als Zusammenfassung der vorher geschilderten Ereignisse zu lesen, verleiht der Erzählung von Humboldts Reisen jedoch auch einmal mehr Authentizität. Indem die Schilderung des Erzählers mit dem gelesenen Bericht übereinstimmt, untermauert der Erzähler zugleich seine Glaubwürdigkeit. Die Verbindung zwischen Gauß und Humboldt zeigt sich erneut an anderen Stellen:

[Gauß] hätte seine Seele dafür gegeben, in hundert Jahren zu leben, wenn es Mittel gegen den Schmerz geben würde und Ärzte, die diesen Namen verdienten. Dabei war es gar nicht schwer: Man brauchte bloß die Nerven am richtigen Ort zu betäuben, am besten mit kleinen Dosen von Gift. Das Curare mußte besser erforscht werden! Es gab eine Flasche davon im chemischen Institut, er würde sich das einmal ansehen. (V 83f.)Sie wußten nun, wie Curare angefertigt wurde, gemeinsam hatten sie nachgewiesen, daß man eine erstaunliche Menge durch den Mund zu sich nehmen konnte, ohne Schlimmeres zu erleiden als ein wenig Schwindel und optische Chimären, daß einem aber schon bei einem winzigen Quantum, eingetropft ins Blut, die Sinne schwanden und bereits das Fünftel eines Gramms reichte, einen kleinen Affen zu töten, den man jedoch retten konnte, wenn man ihm mit Gewalt Atemluft ins Maul blies, solange das Gift seine Muskeln lähmte. (V 132)

Während Gauß der Meinung ist, „[d]as Curare mußte besser erforscht werden“ (V 84), sind parallel dazu Humboldt und Bonpland in Südamerika genau damit beschäftigt. Nicht nur ist erneut ein Verbindungspunkt der beiden gekennzeichnet, auch hierin liegt gleichsam eine Gedankenübertragung: Hatte Gauß erst die Erforschung gefordert, tut Humboldt eben dies an einem anderen Fleck der Erde.

Ein letzter intratextueller Verweis bezieht sich schließlich nicht mehr auf die Verbindung von Humboldt und Gauß, sondern allein auf Humboldt. Während die als Kind gelesene Geschichte über Aguirre Humboldt dazu bewegt, „zum Orinoko zu ziehen“ (V 263), thematisiert Humboldt eben diese Geschichte in Südamerika in einem Gespräch mit den Ruderern:

Einmal stießen sie auf eine Geschichte über Aguirre den Wahnsinnigen, der seinem König abgeschworen und sich selbst zum Kaiser ernannt hatte. In einer Alptraumfahrt ohnegleichen waren er und seine Männer den Orinoko entlanggefahren, an dessen Ufern das Unterholz so dicht war, daß man nicht an Land gehen konnte. Vögel schrien in den Sprachen ausgestorbener Völker, und wenn man aufblickte, spiegelte der Himmel Städte, deren Architektur offenbarte, daß ihre Erbauer keine Menschen waren. Noch immer waren kaum Forscher in diese Gegend vorgedrungen, und eine verläßliche Karte gab es nicht.

Aber er werde es tun, sagte der jüngere Bruder. Er werde dorthin reisen.

Sicherlich, antwortete der Ältere.

Er meine es ernst!

Das sei ihm klar, sagte der Ältere und rief einen Diener, um Tag und Stunde zu bezeugen. Einmal werde man froh sein, diesen Augenblick fixiert zu haben. (V 21f.)
Der Fluß, sagte Julio, dulde keine Menschen. Bevor Aguirre sich hierhin aufgemacht habe, sei er bei Verstand gewesen. Erst hier sei es ihm eingefallen, sich zum Imperator zu erklären.

Ein verrückter Mörder, sagte Bonpland, der erste Erforscher des Orinoko! Das ergebe Sinn.

Dieser traurige Mann habe gar nichts erforscht, sagte Humboldt. Ebensowenig erforsche ein Vogel die Luft oder ein Fisch das Wasser. (V 111)

Ob er sich noch an den Abend erinnere, fragte der Ältere schließlich, als sie die Geschichte von Aguirre gelesen hätten und er beschlossen habe, zum Orinoko zu ziehen? Das Datum sei für die Nachwelt bezeugt! (V 263)

Während die Geschichte über Aguirre, die Humboldt als Kind hört, keine Gründe für Aguirres Beinamen, den Wahnsinnigen, liefert, klärt Julio über die Eigenart des Landes auf, die er für Aguirres Wahnsinn verantwortlich macht. Dadurch wird wieder auf die Vermittlung von Geschichte bzw. Geschichten verwiesen, und eine kritische Auseinandersetzung mit dieser bzw. diesen gefordert.

Durch die dichten intertextuellen Verweise wird nicht nur das Wissen des Lesers vermessen, sondern auch eine Einordnung in einen literarhistorischen Kontext vorgenommen. Neben den vielfachen Verweisen auf deutsche und deutschsprachige Literatur, lassen sich aber auch Einflüsse der US-amerikanischen und südamerikanischen Literatur finden. Analog zu den intertextuellen Verweisen endet das Buch schließlich mit Eugens Aufbruch nach Amerika, während Humboldt auf seinen Reisen in Südamerika immer wieder mit einem anderen Konzept von Erzählen konfrontiert ist. Darüber hinaus integriert der Text in eigener und kreativer Weise selbst Elemente des magischen Realismus. Hierdurch wird nicht nur das rein rationale Denken Humboldts und Gauß’ abgelehnt, sondern auch eine Hinwendung zum Erzählen gefordert.

4.2    Parodie: Die Vermessung und der historische Roman

Wie eingangs festgehalten wurde, ist die Definition von Parodie epochenspezifisch. Gleichwohl geht es bei der Parodie stets um eine Auseinandersetzung mit literarischen Konventionen, die, um wirken zu können, beim Leser als bekannt vorausgesetzt werden. Hierbei wird eine implizite Kommunikation zwischen dem Erzähler und dem Leser geschaffen, bei der zumeist eine kritische Auseinandersetzung mit eben diesen literarischen Konventionen auf Seiten des Erzählers suggeriert wird und letztlich beim Leser erfolgen soll. Für Hutcheon ist Parodie „one of the major forms of modern self-reflexivity; it is a form of inter-art discourse.“126 Begründet liegt das darin, dass diese „[i]n ihrer literarischen Ausprägung […] auf Gattungen, Redeweisen, Stile und deren Rezeption [reagiert].“127 Vor allem für die Metafiktion ist Parodie besonders wichtig: Indem in der Parodie auf bereits bestehende literarische Traditionen referiert wird, diese aber aus einer kritischen Distanz betrachtet werden, kann hierin das Potential für eine Weiterentwicklung liegen. Parodie fungiert als

a method of inscribing continuity while permitting critical distance. It can, indeed, function as a conservative force in both retaining and mocking other aesthetic forms; but it is also capable of transformative power in creating new syntheses, as the Russ[i]an formalists argued.128

Dabei „steht die Referenz auf fiktionale Texte […], nicht der Bezug auf die außersprachliche Wirklichkeit [im Vordergrund]“ (MR 42). In der Vermessung findet die Parodie in der Auseinandersetzung mit verschiedenen literarischen Gattungen statt. Dabei steht vor allem der historische Roman im Fokus. Begründet ist das vor allem in der genauen zeitlichen Verortung und der Wahl der Figuren – Gauß, Humboldt, Goethe, Georg Forster, La Mettrie und andere –, deren Namen historischen Persönlichkeiten der vornehmlich deutschen Geschichte entliehen sind. Der historische Roman wird zunächst definiert als „Romantypus, in dem eine (partiell) fiktive Handlung als Teil eines als Geschichte bekannten Geschehens erzählt wird“129, Fakt und Fiktion werden also grundsätzlich vermischt. Dabei gilt: „Die Imaginationslizenz der literarischen Fiktion gilt nur eingeschränkt; Änderungen historischer Fakten und fiktive Ergänzungen dürfen nicht mit dem historischen Wissen der Rezipienten kollidieren, es sei denn, dass ein Verfremdungseffekt erzielt werden soll.“130 Im historischen Roman wird also historisches Wissen des Rezipienten abgerufen und vor diesem Hintergrund eine (partiell) fiktive Handlung entfaltet, wobei in dieser die historischen Daten in der Regel nicht zu stark verändert sind. Aust argumentiert:

‚Historisches Erzählen‘ bedeutet, Geschichten zu erzählen, die wiederum erkennbare Geschichte voraussetzen. Es stellt dar, was bereits geschehen ist (genauer: was bereits als geschehen mitgeteilt wurde), es berichtet, was trotz Geschichtswissens unbekannt geblieben oder sich nur verderbt erhalten hat, erinnert einerseits an Bedeutendes, andererseits an Vergessenes oder Verdrängtes und vergegenwärtigt, was grundsätzlich abwesend bleibt, weil es bereits ‚gewesen‘ ist. Hinter diesen erzählerischen Aufgaben stehen verschiedene Interessen und Absichten, und demnach unterscheiden sich auch die angewandten Mittel.131

Erkennbare Geschichte ist also ein Merkmal des historischen Erzählens. Mit einem Hinweis auf die diversen Erscheinungsformen des historischen Romans, wie sie beispielsweise von Nünning kategorisiert worden sind, erklärt Scholz allerdings: „Die gegenwärtige Forschung behandelt den historischen Roman […] kaum noch als homogenes Genre.“132 In der Forschung zur Vermessung gehen die Meinungen darüber, ob es sich bei dem Roman um einen historischen Roman handelt, auseinander. Während einige Forscher die Erzählung eindeutig als (postmodernen) historischen Roman klassifizieren,133 argumentieren andere, der Roman spiele lediglich mit den Konventionen des Genres.134 Zunächst ordnen nur die singulär explizit genannte Jahreszahl 1828 zu Beginn der Erzählung, vor allem aber die Figuren, die historischen Persönlichkeiten der Zeit nachempfunden sind, das Geschehen in einen historischen Kontext ein. Die Figuren sind durchaus keine Randfiguren, vielmehr sind es bekannte Persönlichkeiten der überwiegend deutschen Geschichte, insofern ist hier ein geschichtlicher Bezug unzweifelhaft erkennbar. Es kann davon ausgegangen werden, dass dem Rezipienten zumindest der Großteil der Namen geläufig ist. In Bezug auf die Ereignisse jedoch verhält es sich nicht mehr ganz so eindeutig: Es ist offen und durchaus fraglich, über wie viel Kenntnis der Rezipient über die Ereignisse in Humboldts und Gauß’ Leben und über deren wissenschaftlichen Leistungen verfügt. Vielmehr wird ein historischer Kontext aufgerufen, eine Zeit des Umbruchs, der Entwicklung, vor dem einerseits das Verhältnis von Fiktion und Realität, andererseits die Repräsentation von und der Umgang mit Geschichte ausgelotet wird. Kaiser argumentiert, Kehlmanns

Verhältnis zur Geschichte ist dialektisch. Kehlmann erfindet seine Figuren, aber aus exakten historischen Daten; es sind seine Gestalten, welche die Namen Humboldt, Gauß, Goethe usw. führen. Trotzdem verschärft er durch Selektion und Stilisierung des gegebenen Materials die historische Signifikanz […]. Dabei führt Kehlmann im Zuge seiner Erzählung noch eine dritte Weise der Welterschließung vor, die dichterische, die sich nicht in einer Hauptfigur darstellt, sondern als Medium fungiert, in dem sich alles bewegt. […] Während die Romanhandlung den epochalen Wandel zur Geltung bringt, triumphiert hinterrücks die Überlebenskraft des poetischen Erzählens […].135

Wie die Forschung zur Vermessung verdeutlicht, ruft der Roman unweigerlich die Frage nach dem Genre und der Zuordnung auf. Dabei vermisst er das Wissen der Leser, und die Grenze zwischen Fakt und Fiktion bleibt verwischt. Bereits beim ersten Aufschlagen des Buchs scheinen die Lesererwartungen enttäuscht, oder der Leser wenigstens irritiert zurückgelassen zu werden: Zunächst lassen der Titel, sowie die Markierung als Roman, keine Vermutungen auf einen historischen Roman zu. Ist von Seiten des Rezipienten also ein fiktionales Werk zu erwarten, ruft der erste Absatz des Romans zunächst die Konventionen des historischen Romans auf, mit denen jedoch letztlich gespielt wird. Passagen, in denen Auszüge aus Briefen entweder zitiert (vgl. V 265f.) oder in indirekter Rede wiedergegeben werden (vgl. V 163ff.), dienen jedoch nicht Untermauerung von Fakten. Da sie fiktiv sind, ebenso wie der gesamte Roman, dienen sie vielmehr der Authentizitätssteigerung des Erzählers, der Ausgestaltung der Figuren, aber auch der Verunsicherung des Lesers. „Ob wir uns wiedersehen oder nicht, jetzt sind es wieder, wie im Grunde immer schon, nur wir beide“ (V 265) – wiederum sind es die fehlenden verba dicendi, durch die sich der Rezipient einen Moment lang persönlich angesprochen fühlen kann. Historische Ereignisse spielen also, um es mit Gerstenbräun zu sagen, eine „absolut untergeordnete Rolle“136. Vor allem aber durch den faktisch-sachlichen Ton zu Beginn der Vermessung, der nur durch das Adjektiv „größte“ an Objektivität einbüßt, wird vielmehr die Repräsentation von Wissen und Geschichte infrage gestellt. Die kritische Auseinandersetzung mit den literarischen Konventionen des historischen Romans wirft eben diese Frage auf; was die Vermessung suggeriert, ist nicht nur eine Unzuverlässigkeit der menschlichen Wahrnehmung, sondern auch ein notwendiges Hinterfragen des Wissens jedes Einzelnen. So verlässt sich Humboldt zwingend darauf, dass das, was er zu wissen glaubt, auch tatsächlich wahr sein muss: „Menschen flögen nicht, sagte Humboldt. Selbst wenn er es sähe, würde er es nicht glauben. Und das sei dann Wissenschaft? Ja, sagte Humboldt, genau das sei Wissenschaft.“ (V 138)

Tatsächlich weigert sich Humboldt mehrfach, Gegebenheiten, die seinem rationalen Wissen widersprechen, als ‚wahr‘ anzuerkennen. Besonders deutlich wird das in seinen Tagebucheinträgen. Auf der Schiffsreise nach Teneriffa sichtet die Schiffsbesatzung ein Seeungeheuer, „ein Schlangenweib […] mit im Fernrohr deutlich erkennbaren Edelsteinaugen“ (V 45), doch Humboldt „beschloß, nichts darüber aufzuschreiben“ (V 45). Was für Humboldt rational nicht zu erklären ist, verschweigt er.

Wenngleich der Roman nicht primär darauf abzielt, mit den Konventionen des Tagebuchs zu spielen, so werden diese doch am Rande reflektiert. Dem Metzler Lexikon Literatur zufolge ist das Tagebuch eine

Form der Selbstthematisierung bzw. der Aufzeichnung eigener Erlebnisse, Erfahrungen und Gedanken, deren grundlegende Struktureinheit der ‚Tag‘ ist. – […] Strukturprinzip ist die (selten lückenlose) chronologische Reihung einzelner, je aus einer subjektiven, momentanen Sicht heraus verfassten Einträge. Praxis und Gegenstand des Tagebuch-Schreibens variieren erheblich […]. […] Der Roman nutzt die Form des fingierten Tagebuchs, sei es als Erzähleinlage […] oder als strukturell bestimmendes Moment […].137

Das Tagebuch ist also eigentlich ein Medium zur Fixierung des Subjektiven und Momentanen. Humboldt jedoch entscheidet sich bewusst gegen das Festhalten des Momentanen und dafür, es als Medium der beinahe heroischen Selbstdarstellung zu nutzen. Dabei lässt der Erzähler erahnen, dass die Einträge Humboldts, der schließlich als Gesandter Goethes unterwegs ist, fast poetisch anmuten:

Zum Glück, schrieb er in sein Tagebuch, sei er niemals seekrank. Dann mußte er sich übergeben. Auch das war eine Willensfrage! Mit äußerster Konzentration, und nur manchmal unterbrechend, um sich über die Reling zu beugen, schrieb er drei Seiten über das Gefühl des Aufbruchs, die übers Meer sinkende Nacht und die im Dunkel verschwindenden Küstenlichter.

V 44f.

Damit verbunden sind andere Bedenken Humboldts, die vor allem seinen Ruhm betreffen:

Nach einigen Stunden entdeckte Humboldt, daß sich Flöhe in die Haut seiner Zehen gegraben hatten. […]

Pulex penetrans, der gewöhnliche Sandfloh. Er werde ihn beschreiben, aber nicht einmal im Tagebuch werde er andeuten, daß er selbst befallen worden sei.

Daran sei doch nichts Schlimmes, sagte Bonpland.

Er habe, sagte Humboldt, viel über die Regeln des Ruhmes nachgedacht. Einen Mann, von dem bekannt sei, daß unter seinen Zehennägeln Flöhe gelebt hätten, nehme keiner mehr ernst. Ganz gleich, was er sonst geleistet habe.

V 111f.

Ruhm und Wissenschaft bestimmen Humboldts Leben so, dass er nicht einmal im Tagebuch die tatsächlichen Erlebnisse festhält. Verwandt mit dem Tagebuch ist der Reisebericht, der in diversen Formen vorliegen kann. Etwa als Tagebucheintrag, Brief, -sammlung, Gedicht oder auch als Teil einer Autobiografie kann er sich „durch unterschiedliche Grade an Literarizität auszeichnen“138, aber mit ihm verbindet sich jedoch zumeist ein Authentizitätsanspruch und er reflektiert gleichzeitig eher die Mentalität und Deutungen des Eigenen mehr als die des Fremden.139 Humboldts Tagebucheinträge fungieren überwiegend als Reiseberichte. Diese sind allerdings wenig authentisch – stattdessen wird hier auf die Subjektivität und Selektivität der Einträge verwiesen und deutlich, dass die Realität, oder zumindest das, was als Realität, als geschehen präsentiert wird, lediglich konstruiert wird. Somit wird der Bogen zum historischen Roman gespannt, da wiederum Geschichte und Geschichtsschreibung, sowie die Funktionsweise und Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses reflektiert werden, aber auch, da Tagebucheinträge durchaus als Quellen der Geschichtswissenschaft genutzt werden. Auch der Historiker „arbeitet […] auf der Grundlage von Texten“, denn „[s]chließlich entsteht die Geschichtswissenschaft als kollektives Unternehmen der Historiker erst durch den Austausch von Texten (zumeist publizierten, daneben auch gesprochenen).“140 Somit, argumentiert Scholz, verwandelt sich so aber auch

[d]ie traditionelle Geschichtsschreibung, die sich als strikt mimetisch versteht, […] zurück in einen konstruktiven Akt, der keine ewigen Wahrheiten ans Licht fördert, sondern Geschichten aus den Materialien der eigenen Gegenwart bastelt, denen der geschulte Beobachter die Signatur des Autors und seiner Zeit ebenso ansieht wie den Bauwerken ihre Architekten und Entstehungsdaten.141

Das zeigt aber auch, dass „Geschichtsschreibung nicht nur aus Fakten besteht“142. Auch diese Erkenntnis vermittelt der Roman.

Da in der Vermessung vorrangig die Ereignisse im Leben der Figuren Gauß und Humboldt erzählt werden, weist die Erzählung auch eine Nähe zum biografischen Roman auf. Wiederum wird dies zunächst nicht durch den Titel markiert, sondern durch den Verlauf der Erzählung, in dem aus den Leben der Forscher erzählt wird. Die Figuren erhalten dabei jedoch keine besondere psychische Tiefe. Der biografische Roman wird dem Metzler Literatur Lexikon zufolge verstanden als

1. Erzählung des Lebens einer historischen Persönlichkeit in romanhafter, ästhetisch-fiktionaler Form oder 2. (weniger gebräuchlich) fiktionale Imitation der Biographie im Sinne einer Lebensbeschreibung eines fiktiven Helden. – In beiderlei Sinne kennzeichnet den biographischen Roman eine eigentümliche Spannung zwischen faktualen Anteilen bzw. Wahrheitsanspruch der Biographie und Fiktion: Ob eine Figur oder ein Geschehen historisch verbürgt oder fingiert ist, lässt sich aus dem Text selbst nicht unbedingt erschließen; gerade diese mögliche Unbestimmtheit der Gattungszugehörigkeit nutzt der biographische Roman bis zur (kalkulierten) Irreführung des Lesers […]. Im Falle der Transposition einer historischen Persönlichkeit in einen fiktionalen Rahmen ist die Erzählung nicht an das Schema der Biographie gebunden und formal variabel. Der biographische Roman kann das Leben anschaulicher gestalten, die Hauptfigur als Repräsentanten einer bestimmten Epoche, Kunstrichtung oder sozialen Lage herausstellen; er kann über die Grenzen des biographisch Rekonstruierbaren hinausgehen und das psychische Innenleben der Figur ausmalen, ihr Handeln aus der psychischen Struktur ableiten, alternative Geschehen durchspielen und über die Möglichkeiten von Biographie reflektieren.143

Die Vermessung ist weniger eine Lebensbeschreibung eines fiktiven Helden, vielmehr weist sie eine große Nähe zu ersterer Art des biografischen Romans auf. Auch die Vermessung kennzeichnet, wie bereits festgehalten, eine Spannung zwischen Fakt und Fiktion. Humboldt und Gauß repräsentieren dabei ihre Epoche und dienen als Figuren dazu, die Möglichkeiten des Romans gegenüber anderen Gattungen herauszustellen.

4.3    Ironie: Vom Deutschsein

Wie sich in der Betrachtung der theoretischen Grundlagen bereits abgezeichnet hat, ist Ironie ein wichtiges Mittel für die Metafiktion. Für White, so stellt Behler heraus, ist Ironie neben Metapher, Metonymie und Synekdoche Merkmal metahistorischer Strukturen historischer Werke und „bestimmt […] die historische Sehweise der Aufklärer“144. Das Ziel postmoderner Ironie ist, wie Scholz festhält, „das Anspielen und gegeneinander Ausspielen zweier widerstreitender Themen oder Prinzipien.“145

Bereits der Blick auf den Titel als Paratext146 der Erzählung ist ironisch zu verstehen. Lässt sich zunächst vermuten, die Vermessung der Welt als letztlich abgeschlossenes Projekt könne thematisiert werden, wird nach der Lektüre des Romans deutlich: Sie ist es nicht, und kann womöglich auch nicht abgeschlossen werden. Der Titel vermittelt aber auch, dass es um den Zugang zur Welt geht. Etwas vermessen bedeutet schließlich, sich einem Objekt Zugang zu verschaffen, und in der Erzählung geht es um nichts weniger als die Welt. Mit ironischer Distanz und unterliegender Kritik werden aber auch diverse Unterfangen der Aufklärung betrachtet. Grabbe erklärt die Vermessung der Welt zum „Roman über ‚das Deutsche‘“147, bei dem es um eine Aufwertung des Bildungsbürgertums gehe.148 Eine genaue Untersuchung zeigt jedoch, wie bereits Kavaloski149 und Ireton150 argumentieren, dass sich der Roman der Aufklärung gegenüber skeptisch zeigt. Mittels der Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften sowie der episodischen Erzählweise und der Metafiktionalität des Textes kritisiert dieser gerade dieses Bildungsbürgertum und seine Auffassungen, und fordert den Leser zum kritisch-reflektierten Denken auf, das zu einer Distanzierung gegenüber des Bildungsbürgertums führt.

Auf Figurenebene wird zunächst das Bestreben der Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, die Welt empirisch zu beschreiben und zu erklären, also auszumessen, thematisiert. Wie sich anhand der beiden Hauptfiguren zeigt, bedarf es einer fundierten Ausbildung, um dieses Bestreben zu realisieren. Diese Ausbildung in Kinderjahren trägt maßgeblich zur Identitätsbildung der Forscher bei, wodurch die Fragen nach der Identität, nach Alter ein Merkmal metafiktionaler Werke, aufgeworfen werden. „Das Meer“ beginnt mit einem Rückblick auf Humboldt und seine Tätigkeit als Vermesser: „Er […] hatte […] jeden Fluß, Berg und See auf seinem Weg vermessen“ (V 19). Wird er zunächst in Chemie, Physik und Mathematik unterrichtet, genießt er später eine Ausweitung seiner Bildung zum „deutsche[n] Mann“ (V 21) und gleichzeitig eine „Herzensbildung“ (V 23) bzw. eine Ausbildung in „sentimentalischer Kultur“ (V 21). Parallel zur ausführlichen Beschreibung des Bildungswegs Humboldts findet auf der Ebene der Figuren zugleich metafiktional eine Vermessung, eine Ausmessung der Bildungselite des 19. Jahrhunderts statt: „Das Meer“ sammelt und systematisiert gleichsam die zentralen und als repräsentativ geltenden gebildeten Europäer, nennt ihre Namen, erklärt sie wenig, und vermisst somit den Bildungshorizont der realen Leserschaft außerhalb der Fiktion.151 Die Begegnung Humboldts mit der südamerikanischen Kultur ist als ein Exempel der Kritik am Expansionsbestreben deutscher Bildung im 19. Jahrhundert zu lesen. Dabei wird vor allem Humboldts Passivität in den Vordergrund gerückt, denn seine Forschungstätigkeit beschränkt sich auf die reine Tätigkeit des Vermessens: „Man wolle wissen, sagte Humboldt, weil man wissen wolle.“ (V 70) Seine Tätigkeit verbleibt kritiklos und unbeteiligt. Humboldt zeigt weder ein ernstes Interesse daran, eine Lösung für das Problem der Einheimischen mit den Läusen zu finden, noch für die Sklaverei. Ausgehend von seiner Bildung und seinem Verständnis von Freiheit, kauft Humboldt zwar drei Männer auf dem Sklavenmarkt und lässt sie frei – diese jedoch „begriffen nicht.“ (V 70) Diese Reaktion stößt schließlich auch bei Humboldt selbst auf Unverständnis: „Bei der nächsten Versteigerung blieben Humboldt und Bonpland zu Hause, arbeiteten bei geschlossenen Läden und gingen erst hinaus, als es vorbei war.“ (V 71)

Selbstironisch reflektiert der Roman auch das Verhältnis von Literatur und Naturwissenschaften. Zuerst spiegelt sich das im Gegensatz von Humboldt und seinem älteren Bruder. Während sich Humboldt den Naturwissenschaften widmet, beschäftigt sich sein Bruder mit Literatur und den schönen Künsten:

Sein Bruder, sagte Humboldt, habe erst kürzlich eine tiefsinnige Studie über Schiller verfaßt. Ihm selbst habe Literatur ja nie viel gesagt. Bücher ohne Zahlen beunruhigten ihn. Im Theater habe er sich stets gelangweilt. Ganz richtig, rief Gauß. Künstler vergäßen zu leicht ihre Aufgabe: das Vorzeigen dessen, was sei. Künstler hielten Abweichungen für eine Stärke, aber Erfundenes verwirre die Menschen, Sitiliserung verfälsche die Welt. Bühnenbilder etwa, die nicht verbergen wollten, daß sie aus Pappe seien, englische Gemälde, deren Hintergrund in Ölsauce verschwimmen, Romane, die sich in Lügenmärchen verlören, weil der Verfasser seine Flausen an die Namen geschichtlicher Personen binde. Abscheulich, sagte Gauß. 

V 221

An dieser Stelle wird das Verhältnis zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ausgelotet. Vermessen werden hier die Möglichkeiten der beiden Wissenschaften, und ausgemessen wird der Handlungsraum von Literatur. Die Metafiktionalität dieser Stelle betont die Ironie, denn der Roman macht genau das, was kritisiert wird. In diesem Sinne wird die Fiktion jedoch über die Empirie erhoben, bzw. aufgezeigt, dass die Empirie alleine nicht für ein möglichst umfassendes Verständnis von Geschichte oder Realität ausreichend ist. Vor allem aber fehlt den Hauptfiguren ein Verständnis dafür, in welchem Sinne Künstler doch aufzeigen, was ist. Denn das, so zeigt der Text, ist eine der herausragenden Qualitäten von Literatur: Die Fiktion schafft Welten, die mittels eigener Gesetze und auf symbolische Weise zeigen, was ist. Auch an anderer Stelle wird die Figur Gauß zum Mittler metafiktionaler Kommentare:

Seltsam sei es und ungerecht, sagte Gauß, so recht ein Beispiel für die erbärmliche Zufälligkeit der Existenz, daß man in einer bestimmten Zeit geboren und in ihr verhaftet sei, ob man wolle oder nicht. Es verschaffe einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und mache einen zum Clown der Zukunft. Eugen nickte schläfrig. Sogar ein Verstand wie der seine, sagte Gauß, hätte in frühen Menschheitsalter oder an den Ufern des Orinoko nichts zu leisten vermocht, wohingegen jeder Dummkopf in zweihundert Jahren sich über ihn lustig machen und absurden Unsinn über seine Person erfinden könne. Er überlegte, nannte Eugen noch einmal einen Versager und widmete sich dem Buch.

V 9

Der Schriftsteller wird bei Gauß zum Dummkopf. Aber gerade Literatur vermag, was Naturwissenschaften nicht können: Ihre eigenen Welten schaffen und imaginieren, wie es war oder hätte sein können. Welche Wirkkraft und Notwendigkeit Literatur und Erzählen haben, wird später noch einmal deutlich: „Erfundene Geschichten aufzuschreiben sei in allen Kolonien verboten. Aber die Leute seien hartnäckig, und auch die heilige Macht der Kirche kenne Grenzen. Es liege am Land.“ (V 114) Hier, im Ausland, wird die Abneigung gegen Literatur im Verbot radikalisiert und die ‚Macht‘ der Religion, der Kirche infrage gestellt. Den Figuren scheint nicht nahezuliegen, dass die Wirkkraft des Erzählens ein universelles Phänomen ist. Stattdessen wird das Heimatland als das ‚Überlegene‘ dargestellt – was durch den Roman selbst ironisiert wird. An anderer Stelle wird Humboldt wiederum als Medium für einen metafiktionalen Kommentar genutzt:

Das Werk heiße Über Gunkel, handle von nichts und komme überhaupt nicht voran. Das Romanschreiben, sagte Humboldt, erscheine ihm als Königsweg, um das Flüchtigste der Gegenwart für die Zukunft festzuhalten. […] Somit sei es ein albernes Unterfangen, wenn ein Autor, wie es jetzt Mode werde, eine schon entrückte Vergangenheit zum Schauplatz wähle.

V 27

An dieser Stelle verweist der Text auf sein eigenes Verfahren, die Biografien historischer Persönlichkeiten fiktional zu bearbeiten, und darüber hinaus einen Schauplatz zu wählen, der in der Vergangenheit liegt. Das Verfahren ist, wie der Text andeutet, durchaus nicht neu. Der Roman nutzt dieses jedoch, um die beiden Wissenschaften gegenüberzustellen und so Kritik am Abbild der Bildung zu üben. Geistes- und Naturwissenschaften, Denken und Vermessen, sind hier exemplarisch nicht mehr getrennt, sondern werden im Roman zusammengeführt, zusammengedacht, und als neuer Weg zum umfassenden Verständnis von Geschichte und der Welt präsentiert.

Explizit um Geschichte und Literatur geht es im Kapitel „Der Lehrer“, in dem Gauß zu Herzog von Braunschweig geschickt wird. Es heißt dort:

Er wußte, daß es bald keine Herzöge mehr geben würde. Dann würde man von absoluten Herrschern nur in Büchern lesen, und der Gedanke, vor einem zu stehen, sich zu verneigen und auf sein Machtwort zu warten, käme jedem Menschen fremd und märchenhaft vor.

V 61

Die fehlenden verba dicendi, auf die bereits hingewiesen worden ist, sowie die indirekte Rede lassen erneut nicht erkennen, ob es sich hierbei um die Gedanken oder Worte von Gauß oder um die des Erzählers handelt. Aus faktualen Gegebenheiten werden also im ersten Schritt, in der Geschichtsschreibung, nicht-fiktionale literarische Erzeugnisse, im zweiten Schritt jedoch, so zeigt der Roman, werden sie zum Teil einer Imagination. Das kollektive kulturelle Gedächtnis wird aufgebaut innerhalb der Geschichtsschreibung, aber vor allem in Romanen verarbeitet.

Solche textuellen Unsicherheiten sowie die kurzen Kapitelüberschriften durchbrechen wiederholt die literarische Fiktion. Sie spiegeln und dokumentieren gleichsam den Drang, Dinge zu bezeichnen, zu systematisieren, zu ordnen. Dieser Drang zum Bezeichnen erweist sich als Ironisierung des Abmessens als Notwendigkeit, um Geschichte verstehen zu können. Mit der alleinigen Bezeichnung ist jedoch noch kein Verständnis gewonnen. „Die Sterne“ als Kapitelüberschrift beispielsweise bezeichnet zwar alles Folgende. Für ein umfassendes und detaillierteres Verständnis der erzählten Geschichte erweist sich diese Sammlung von Bezeichnungen als längst nicht ausreichend. In diesem Sinne ist auch die einmalige Nennung einer konkret-nachvollziehbaren Jahreszahl zu verstehen: Indem der Text im Konkreten beginnt und sich von hier aus ins Vage, Unkonkrete, Abstrakte und Fiktive entfaltet, zeigt der Text auf, dass nicht nur eine Art der Geschichtsschreibung existiert. Stattdessen findet sie auf verschiedenen Graden, Wegen und mit diversen Mitteln statt. Es wird hier ein alternatives Geschichtsverständnis verhandelt: Messen als reines Ver-Messen wird als nicht (mehr) aktuell kritisiert, als nicht mehr ausreichend. Messen, oder auch ganz einfach Geschichte schreiben, wie sie historischen Dokumenten zufolge ist bzw. gewesen sei, ist nur ein kleiner Teil der Geschichtsschreibung. Insofern als der andere Teil Fiktion sein muss, muss auch das Geschichtsverständnis erweitert werden. Der Text stellt auf metafiktionaler Ebene die Arbeitsweisen verschiedener Jahrhunderte gegenüber.

Wer den Professor nach frühen Erinnerungen fragte, bekam zur Antwort, daß es so etwas nicht gebe. Erinnerungen seien, anders als Kupferstiche oder Postsendungen, undatiert. Man finde Dinge in seinem Gedächtnis vor, welche man manchmal durch Überlegung in die richtige Reihenfolge bringen könne.

V 53

Geschichte besteht also aus zwei Komponenten. Zu einem Teil aus nicht-fiktionalen Texten, die durch das datierte Festhalten von ‚Fakten‘ an die Wahrheit annähern wollen. Den anderen Teil machen die undatierten, mehr oder minder vagen fiktionalen Erinnerungen und Imaginationen aus, die einen anderen Zugang zur Wahrheit eröffnen.

„Das Meer“ erzählt von Humboldts Werdegang und Erziehung, bevor er „in ganz Europa berühmt“ (V 19) geworden war. Seine Erziehung und die seines Bruders werden nach dem unverständlichen Ratschlag Goethes von Kunth entschieden:

Er meinte zu begreifen, sagte Kunth schließlich, es handle sich um ein Experiment. Der eine solle zum Mann der Kultur ausgebildet werden, der andere zum Mann der Wissenschaft. Und welcher wozu? Kunth überlegte. Dann zuckte er die Schultern und schlug vor, eine Münze zu werfen.

V 20

Der Bildungsweg der Brüder wird also nicht aufgrund der Fähigkeiten entschieden, sondern erweist sich als völlig willkürlich ausgesucht. Anstatt die Brüder umfassend auszubilden, entscheidet der Zufall, ausgedrückt im Münzwerfen. Die „Vielfalt der menschlichen Bestrebungen“ (V 19), die Goethe zufolge in ihnen angelegt ist, wird und kann nicht vollständig ausgebildet werden, stattdessen werden feste Bildungswege festgelegt. Der Text lässt es dabei jedoch offen, ob sich die Neigungen, die die Brüder zeigen – „Alexander […] strich […] durch die Wälder, sammelte Käfer und ordnete sie nach selbsterdachten Systemen“, „[d]er ältere Bruder […] konnte reden wie ein Dichter“ (V 20) – aus einem inneren Bedürfnis entstanden oder ob ihre Ausbildung sie bedingt. Erziehung ist also kein ‚Vermessen‘ der Neigungen und Fähigkeiten der Kinder, sondern ein potenzieller Irrtum. Das Bildungsexperiment an Humboldt wird schnell zur Ausbildung zum „deutsche[n] Mann“ (V 21), und letztlich zum Projekt, seinem Bruder zu beweisen, er würde in bisher unerforschte Gegenden der Welt reisen können. Es zeigt sich, dass Humboldt vor allem in der „Herzensbildung“ bzw. der Ausbildung in „sentimentalischer Kultur“ (V 21), die Kunth als Notwendigkeit einer vollständigen Ausbildung ansieht, scheitert. Nicht nur waren „[w]ie erwartet […] die Briefe des älteren Bruders die besseren“ (V 23), Humboldt begeht einen weiteren Faux pas, indem er der jungen Frau Henriette Herz das Buch L’homme machine von La Mettrie schenkt, denn: „Dieses Werk sei verboten, ein verabscheuungswürdiges Pamphlet.“ (V 23) Welche Wichtigkeit das Buch für ihn hat, zeigt sich im Folgenden, wenn Humboldt seinem Bruder erklärt, das Buch sei bemerkenswert.

[D]er Mensch sei eine Maschine, ein automatisch agierendes Gestell von höchster Kunstfertigkeit. […] Mit Seele. Mit Ahnungen und poetischem Gespür für Weite und Schönheit. Doch sei diese Seele selbst nur ein Teil, wenn auch der komplizierteste der Maschinerie. Und er frage sich, ob das nicht der Wahrheit entspreche.

V 23f.

Diese Passage verweist auf seine eigene Entscheidungsfähigkeit und (partiellen) Entscheidungsfreiheit, zu der er erst später gelangt: „Er wolle das Leben erforschen, die seltsame Hartnäckigkeit verstehen, mit der es den Globus umspanne.“ (V 26) Humboldt ist von Ehrgeiz getrieben, seine Entscheidungsfähigkeit wird jedoch noch immer von Kunth unterbunden. Humboldt verfasst zwar schon schnell seine erste Schrift, sie sei jedoch „noch nicht gut genug, um unter dem Namen Humboldt gedruckt zu werden.“ (V 27) Dabei ist es die spezifische Erzählweise des Erzählers, durch die bereits auf den ersten Seiten Kritik an dieser Art der Ausbildung deutlich wird. Humboldt setzt sich zwar gegen Kunth durch, indem er in Frankfurt nicht wie geplant Kameralistik studiert, aber die Beschreibung von Humboldts Ungeschicklichkeit in der Gesellschaft gibt eine gewisse Lächerlichkeit des Bildungsprojekts preis. Schließlich erlangt Humboldt zwar Ruhm, findet aber weder Freunde, noch hat er Interesse an der Ehe (vgl. V 30). Bis zum Ende widmet sich Humboldt ausschließlich seiner Arbeit – sein soziales Funktionieren in der Gesellschaft wird infrage gestellt. Im Gegensatz zur ausführlichen Schilderung von Humboldts Bildungsgang, geht es im Kapitel „Der Lehrer“ hauptsächlich um die Beziehung Gauß’ zu seinen Eltern. Die Definition eines Deutschen beschränkt sich den Worten seines Vaters zufolge darauf, nie krumm zu sitzen (vgl. V 54). Daneben wurde Gauß von seinem sadistischen Lehrer weder gefördert noch in irgendeiner Weise ausgebildet. Das Genie von Gauß wird als ein Natürliches dargestellt, das keiner so umfassenden Bildung gebrauchte wie die Humboldts, und sogar von der öffentlichen Bildungsanstalt zunächst infrage gestellt wird. Hier wird jedoch wieder auf den Gedanken der menschlichen Maschine referiert, denn Gauß versteht die Trägheit anderer Leute nicht: „Als würden Gedanken von einer Maschine hervorgebracht, die man zuvor anwerfen und in Gang kurbeln mußte, als wären sie nicht lebendig und bewegten sich von selbst.“ (V 54) Hier treffen zwei verschiedene Bilder von Bildung und dem Menschen aufeinander: Während Humboldt den Gedanken vom Menschen als Maschine als fortschrittlich gepriesen hatte, erkennt Gauß ihn als träge, als rückständig an. In der negativ gefärbten Darstellung Gauß’ wird jedoch auch die Kritik am Menschen, nicht denken zu wollen (vgl. V 55) ironisiert. Während der geschulte und gut ausgebildete Humboldt die Welt bereist und vermisst, widmet sich Gauß dem Denken, wofür die breite Masse zu träge sei. Humboldts Bildungsgang wird dem von Gauß gegenübergestellt. Gauß’ Sohn Eugen hingegen steht für eine neue Generation, die noch am Anfang steht. In Bezug auf den Roman steht sie chronologisch allerdings am Ende, nämlich im letzten Kapitel der Vermessung. Eugen ist im Gegensatz zu seinem Vater körperlich gesund, trägt langes Haar, liebt Friedrich Jahns Deutsche Turnkunst (vgl. V 8), verlässt aber letztlich Deutschland in Richtung England, Teneriffa und schließlich Amerika. Auf der Fähre prophezeit der Ausspruch des Kapitäns eine neue Ära: „Also sei, fragte Eugen, die Zeit der großen Navigatoren vorüber? Kein Blight mehr, kein Humboldt? […] Sie sei vorbei, antwortete der Kapitän schließlich, und werde nie wiederkehren.“ (V 299)

Der Erzähler spielt wiederholt mit den Lesererwartungen. Zwar ist der Text gekennzeichnet als Roman; was er jedoch fordert, ist das Eingeständnis des Irrtums derjenigen, die den Text als historischen Roman lesen wollen. Der Roman orientiert sich an historischen Persönlichkeiten und Gegebenheiten, er erhebt jedoch durchaus nicht den Anspruch, historisch korrekt zu sein oder einen objektiven Wahrheitsgehalt zu besitzen. Kritisiert und herausgefordert wird hier ein veraltetes Verständnis von Literatur und Geschichte. Dem Text nach erweisen sich Geschichte und ihr bisheriges Verständnis als Illusion (vgl. V 59).

Auf metafiktionaler Ebene kann der Erzähler als gleichsam vermessen bezeichnet werden. Konsequent stellt er die beiden Hauptfiguren gegenüber, und gibt Gauß an wenigstens einer Passage die vorrangige Stellung. Während Humboldt von La Mettries Idee des Menschen als Maschine begeistert ist, betont der Erzähler eine gewisse Lächerlichkeit dieses Glaubens auf zwei Arten. „Der Autor behaupte ernstlich, der Mensch sei eine Maschine“ (V 23): Zum einen markiert das Wort ‚ernstlich‘ hier eine Naivität, zum anderen referiert später auch Gauß darauf, als er den Gedanken des Menschen als Maschine aufgreift und ihn als rückständig, träge, nachteilig erkennt.

Der Erzähler vermisst auch, wie anfänglich beschrieben, den Bildungshorizont des Lesers. Er fordert diesen zugleich heraus, indem er stereotype Bilder der großen Bildungselite des 19. Jahrhunderts aufruft. Der Erzähler setzt also selbst einerseits für ein umfassendes Verständnis des Textes eine entsprechend umfassende Bildung des Lesers voraus. Andererseits zeigt sich, dass der Text auch mit gewissen Wissenslücken verständlich ist. Die episodische Erzählweise ist als weiteres Zeichen für ein neues Verständnis von Geschichte zu verstehen. Abwechselnd und lediglich episodisch handelt der Text vom Leben Humboldts und Gauß’, spart große Teile aus, widmet sich hingegen Bruchstücken der Leben der Männer in größerem Umfang. Durch diese Episoden wird vorgeführt, dass es sich beim Roman nicht um ein historisches Dokument handelt. Vor allem das fast vollständige Fehlen von eindeutigen Dialogmarkern und das Reden im Konjunktiv sind wichtige Anzeichen dafür, nicht alles unbesehen als wahr anzunehmen. Gleichzeitig wird dadurch auch metafiktional das ‚deutsche‘ Verständnis von Bildung herausgefordert und gleichsam einer Kritik unterzogen.

Die Welt soll von mir erfahren. Ich müßte mich sehr irren, wenn ich ihr gleichgültig bin.

V 51

Die Reflexion von Bildung ist stets verbunden mit der Frage nach dem epochenspezifischen Geschichtsverständnis. Die Vermessung der Welt zeigt, dass Schriftsteller und Erzähler zwangsläufig in den Prozess der Geschichtsschreibung eingebunden sind. Dabei haben fiktionale Texte jedoch einen anderen Status als nicht-fiktionale Texte und sind somit in einem anderen Maße und mit einem anderen Anspruch an Wahrheit in den Prozess einge-bunden. Es sind imaginierte, mögliche, menschliche Aspekte der Geschichte, die die Subjektivität der Geschichte(n) betonen, sowie lediglich eine Annäherung an Wahrheit. Vor allem vor dem Hintergrund der metafiktionalen Aussagen und Gauß’ Literaturkritik sowie Humboldts Reflexionen über Literatur wird das Bildungsbürgertum kritisiert, da ein einseitiges empirisches Ver-Messen von Geschichte und der Welt nicht genügt. Die Struktur des Textes und der Konjunktiv weisen auf die Unendlichkeit des Möglichen beim Erzählen hin, indem mit der Begegnung von Gauß und Humboldt begonnen wird und der Weg dorthin erst danach entfaltet wird. Zugleich werden aber auch die Inhalte der Geschichte bzw. ihre Objektivität infrage gestellt und ironisch vorgeführt. Insofern ist der Text eine intellektuelle Herausforderung an den Leser, und das unabhängig davon, ob die zahlreichen intertextuellen Bezüge erkannt werden.

„Zum Glück, schrieb er in sein Tagebuch, sei er niemals seekrank. Dann mußte er sich übergeben.“ (V 44) Als Medium der Darstellung kann Literatur die Wahrheit, wie das Zitat beweist, komplett verfälschen, aber auch Legenden produzieren: „jetzt war er eine Legende, sein Buch war weltbekannt“ (V 28). Der Text stellt heraus, dass denjenigen Gebildeten, die in heimatlichen Gefilden bleiben (etwa Gauß oder Goethe und Zeitgenossen), genauso wie den Forschern, die in die weite, in die „Neue Welt“ (V 36) reisen, ein umfassenderes Verständnis von Geschichte und Literatur abgeht. Die Vermessung der Welt zeigt Lücken des Bildungsbürgertums bezüglich einer Weltoffenheit auf und macht sich metafiktional darüber gleichsam lustig, denn es heißt: „Von uns kommen Sie, sagte Goethe, von hier. Unser Botschafter bleiben Sie auch überm Meer.“ (V 37) Hierin zeigt sich die Idee, das deutsche Bildungsprojekt zu Beginn einer sich bildenden deutschen Nation in andere Länder zu tragen. Bezeichnend ist dabei die Reaktion der Salzburger: „Die Einheimischen hielten ihn für verrückt.“ (V 38)

Gleichzeitig wird so auch ‚das Deutsche‘ einer Kritik unterzogen. Als Beispiel hierfür gelten Humboldts Tätigkeiten im Ausland, wobei er einerseits passiv verbleibt, andererseits kritiklos die deutsche Kultur in die Länder bringt. Aber auch die vielen intertextuellen Bezüge verweisen auf eine literarische Verbundenheit verschiedener Länder und zerstören so die Fiktion eines genuin Deutschen. Was ironisiert und somit auch kritisiert wird, ist ein Bestreben, ‚ein Deutsches‘ zu schaffen. Dabei symbolisiert das Altern Gauß’ das Altern der Gesellschaft, das Veraltete der Kultur und des Bestrebens, ‚das Deutsche‘ des 19. Jahrhunderts aufrechtzuerhalten. Stattdessen muss die Sicht auf das, was ‚deutsch‘ sein soll, aktualisiert werden. Auch existiert eine objektive Wahrheit nicht. Auf die Spitze getrieben und ironisiert wird diese Erkenntnis im Zusammenhang mit einem neuen Geschichtsverständnis in Abgrenzung zum 19. Jahrhundert mittels der fiktiven Biografien.

Neben der ironischen und kritischen Betrachtung der Erziehung ‚zum Deutschen‘ wird, wie bereits dargelegt, mit den Konventionen des historischen und biografischen Romans gespielt. Darüber hinaus finden sich im Text immer wieder ironische Wendungen, die zu humoristischen Momenten werden. Bittet Humboldt während des Prozesses der Fotografie zunächst um „[n]ur einen Augenblick“ (V 15), beweist der Text Humor, wenn er Humboldts Verständnis von der Zeitspanne eines Augenblicks darstellt: „fünfzehn Minuten etwa, man sei schon recht weit fortgeschritten. Vor kurzem habe es noch viel länger gedauert“ (V 15). Analog zu Humboldt wird auch Gauß in ironisch gezeichneten Szenen gezeigt. Wie u. a. Rickes aufzeigt, kann im Grafen von der Ohe zur Ohe eine Gottfigur gesehen werden: Im Kapitel „Der Garten“ kann der Garten selbst als Paradies, und das Gespräch als „das ironisch verkleinerte Jüngste Gericht“152 gelesen werden, „[d]ie Ironie der Szene liegt darin, dass der atheistische Naturwissenschaftler nicht erkennt, mit wem er spricht.“153 Letztlich können sicherlich auch die metafiktionalen Kommentaren der Figuren Gauß und Humboldt ironisch gelesen werden, indem sie ein Kommentar zum Verfahren des Erzählers selbst sind, und letztlich konsequenterweise auf die mögliche Rezeption des Romans verweisen.

Fußnoten

101 Broich, Ulrich: Intertextualität. In: Fricke, Werner u.a. (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Berlin: De Gruyter 2000, S. 175-179, hier S. 175. Zitiert nach Berndt, Frauke; Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt 2013, S. 7.

102 Vgl. ­­­Berndt; Tonger-Erk: Intertextualität (2013), S. 8.

103 Broich, Ulrich; Pfister, Manfred: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen: Max Niemeyer 1985, S. 15.

104 Tippelskirch, Karina von: Paradigms and Poetics in Daniel Kehlmann’s Measuring the World. In: Symposium: A Quarterly Journal in Modern Literatures 63:3 (2009), S. 194-206, hier S. 199.

105 Petras: Tragischer Realismus (2013), S. 73.

106 Ireton, Sean: Lines and Crimes of Demarcation: Mathematizing Nature in Heidegger, Pynchon, and Kehlmann. In: Comparative Literature 63:2 (2011), S. 142-160, hier S. 142.

107 Tippelskirch: Paradigms and Poetics in Daniel Kehlmann’s Measuring the World (2009), S. 201.

108 Anderson: Der vermessende Erzähler (2008), S. 65.

109 Ebd.

110 Eichinger, Ludwig M.: Das rechte Maß. Daniel Kehlmanns „Vermessung der Welt“ als ein Beispiel zeitgemäßer Schriftlichkeit. In: Studi Linguistici e Filologici Online 4:2 (2006), S. 245-298, insbesondere S. 253-255.

111 Klopstock, Friedrich Gottlieb: Oden. Erster Band. Leipzig: Georg Joachim Göschen 1798, S. 209f.

112 Goethe, Johann Wolfgang von: Goethes Werke. Zweiter Band: Gedichte und Epen 1. 10., überarbeitete Auflage. Hg. von Erich Trunz. München: C. H. Beck, S. 142.

113 Gasser, Markus: Daniel Kehlmanns unheimliche Kunst. In: text+kritik 177 (2008), S. 12-29, hier S. 25.

114 Rickes, Joachim: Die Romankunst des jungen Thomas Mann. „Buddenbrooks“ und „Königliche Hoheit“. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 17.

115 Gerstenbräun: a fiction is a fiction is fiction? (2012), S. 52.

116 Vgl. Rickes, Joachim: Daniel Kehlmann und die lateinamerikanische Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 19ff. Wird im Folgenden im Fließtext mit der Sigle DK abgekürzt.

117 Rössner, Michael: Mexiko 1910-1968: der Mythos der Revolution. In: Rössner, Michael (Hg.): Lateinamerikanische Literaturgeschichte. 3. Auflage. Stuttgart: J. B. Metzler 2007, S. 263-283, hier S. 283.

118 Ebd., S. 282.

119 Borsò, Vittoria; Wild, Gerhard: Die Andenländer 1920-1970: die Erfahrung des „Anderen“. In: Rössner, Michael (Hg.): Lateinamerikanische Literaturgeschichte. 3. Auflage. Stuttgart: J. B. Metzler 2007, S. 329-347, hier S. 346.

120 Ebd., S. 458.

121 Ingenschay, Dieter: Die Literaturen Kolumbiens und Venezuelas 1920-1970: periphere Regionen gegen das Zentrum. In: Rössner, Michael (Hg.): Lateinamerikanische Literaturgeschichte. 3. Auflage. Stuttgart: J. B. Metzler 2007, S. 309-329, hier S. 324.

122 Berg, Walter Bruno: Cono Sur (Chile, La-Plata-Staaten, Paraguay): die Belebung durch das „populäre Genre“ und die Blüte der phantastischen Literatur. In: Rössner, Michael (Hg.): Lateinamerikanische Literaturgeschichte. 3. Auflage. Stuttgart: J. B. Metzler 2007, S. 347-372, hier S. 365.

123 Berg, Walter Bruno: Cono Sur (Chile, La-Plata-Staaten, Paraguay): Terror und seine Verarbeitung in der Literatur. In: Rössner, Michael (Hg.): Lateinamerikanische Literaturgeschichte. 3. Auflage. Stuttgart: J. B. Metzler 2007, S. 466-481, hier S. 466.

124 Vgl. V 120: „Als sie oben waren, brachte Humboldt mit einer Konzentration, die bloß nachließ, wenn er wieder nach Moskitos schlagen mußte, ein Stück perfekter Prosa über den Anblick der Stromschnellen, der sich über dem Fluß türmenden Regenbogen und des feuchten Silberglanzes der Weite zu Papier.“

125 Vgl. Gerstenbräun: a fiction is a fiction is fiction? (2012), S. 53.

126 Hutcheon, Linda: A Theory of Parody. The Teachings of Twentieth-Century Art Forms. New York: Methuen 1985, S. 2.

127 Freund, Winfried: Die Literarische Parodie. Stuttgart: Metzler 1981, S. 14.

128 Hutcheon: A Theory of Parody (1985), S. 20.

129 Fulda, Daniel: Historischer Roman. In: Burdorf, Dieter; Fasbender, Christoph; Moeninghoff, Burkhard (Hgg.): –Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart: J. B. Metzler 2007, S. 318-319, hier S. 318.

130 Fulda: Historischer Roman. In: Burdorf; Fasbender; Moeninghoff (Hgg.): Metzler Lexikon Literatur (2007), S. 318.

131 Aust, Hugo: Der historische Roman. Stuttgart: Metzler 1994, S. 17. Zitiert nach Neuhaus: „Die Fremdheit ist ungeheuer“ (2013), S. 28.

132 Scholz, Gerhard: Zeitgemäße Betrachtungen. Zur Wahrnehmung von Gegenwart, Vergangenheit und Geschichte in Felicitas Hoppes Johanna und Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. Innsbruck: StudienVerlag 2008, S. 12.

133 Bspw. Scholz: Zeitgemäße Betrachtungen (2008), oder Costagli, Simone: Ein postmoderner historischer Roman: Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch / A German Studies Yearbook 11 (2012), S. 261-279.

134 Bspw. Neuhaus: „Die Fremdheit ist ungeheuer“ (2013), Schilling: Der historische Roman seit der Postmoderne (2012), oder Gerstenbräun: a fiction is a fiction is fiction? (2012).

135 Kaiser, Gerhard: Erzählen im Zeitalter der Naturwissenschaft. Zu Daniel Kehlmanns Roman „Die Vermessung der Welt“. In: Sinn und Form 62:1 (2010), S. 122-134, hier S. 123f.

136 Gerstenbräun: a fiction is a fiction is fiction? (2012), S. 36.

137 Schwalm, Helga: Tagebuch. In: Burdorf, Dieter; Fasbender, Christoph; Moeninghoff, Burkhard (Hgg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart: J. B. Metzler 2007, S. 750-751.

138 Schuster, Jörg: Reisebericht. In: Burdorf, Dieter; Fasbender, Christoph; Moeninghoff, Burkhard (Hgg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart: J. B. Metzler 2007, S. 640-641, hier S. 640.

139 Vgl. ebd.

140 Fulda, Daniel: Die Texte der Geschichte. Zur Poetik modernen historischen Denkens. In: Poetica 31 (1999), H. 1/2, S. 27-60, hier S. 31.

141 Scholz: Zeitgemäße Betrachtungen (2008), S. 16.

142 Ebd., S. 18f.

143 Schwalm, Helga: Biographischer Roman. In: Burdorf, Dieter; Fasbender, Christoph; Moeninghoff, Burkhard (Hgg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart: J. B. Metzler 2007, S. 91.

144 Behler, Ernst: Ironie und literarische Moderne. Paderborn: Schöningh 1997, S. 323.

145 Scholz: Zeitgemäße Betrachtungen (2008), S. 54.

146 Vgl. Genette: Palimpseste (1993), S. 11: „Der zweite Typus betrifft die im allgemeinen weniger explizite und weniger enge Beziehung, die der eigentliche Text im Rahmen des von einem literarischen Werk gebildeten Ganzen mit dem unterhält, was man wohl seinen Paratext nennen muß: Titel, Untertitel, Zwischentitel; Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Leser, Einleitungen usw.; Marginalien, Fußnoten, Anmerkungen; Motti; Illustrationen; Waschzettel, Schleifen, Umschlag und viele andere Arten zusätzlicher, auto- und allographer Signale, die den Text mit einer (variablen) Umgebung ausstatten […].“

147 Grabbe: Deutschland – Image und Imaginäres (2014), S. 191.

148 Ebd., S. 200.

149 Vgl. Kavaloski, Joshua: Periodicity and National Identity in Daniel Kehlmann’s Die Vermessung der Welt. In: Gegenwartsliteratur 9 (2010), S. 263-287, hier S. 264: „Kehlmann’s novel demonstrates skepticism toward the Enlightenment and its universal ideas of tolerance and equality.“

150 Vgl. Ireton: Lines and Crimes of Demarcation (2011), S. 158: „Heidegger, Pynchon, and Kehlmann all critique, in remarkably similar fashion, the mathematizing tendencies of modern scientific inquiry.“

151 Es treten hier unter anderem die Eheleute Herz auf sowie Goethe, Kunth, La Mettrie, Wildenow, Zimmermann, Kästner, Lichtenberg, Forster, Cook, Abraham Werner, Galvani oder auch Schiller.

152 Rickes, Joachim: Wer ist Graf von der Ohe zur Ohe? Überlegungen zum Kapitel „Der Garten“ in Daniel Kehlmanns ‚Die Vermessung der Welt‘. In: Sprachkunst (1. Halbband 2007), S. 89-96, hier S. 94.

153 Ebd., S. 95.

Siglenverzeichnis

Ä | Wolf, Werner: Ästhetische Illusion und Illusionsbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. Tübingen: Max Niemeyer 1993.

DE | Genette, Gérard: Die Erzählung. 3., durchgesehene und korrigierte Auflage. Paderborn: Wilhelm Fink 2010.

DE | Genette, Gérard: Die Erzählung. 3., durchgesehene und korrigierte Auflage. Paderborn: Wilhelm Fink 2010.

DK | Rickes, Joachim: Daniel Kehlmann und die lateinamerikanische Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012.

EE | Martinez, Matias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C. H. Beck 1999.

FE | Scheffel, Michael: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. Tübingen: Max Niemeyer 1997.

FFL | Gass, William Howard: Fictions and the Figures of Life. 2. Auflage. Boston: Godine 1980.

FM | Scholes, Robert: Fabulation and Metafiction. Urbana: University of Illinois Press 1979.

FS | Wolf, Werner: Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst. Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur ‚mise en cadre‘ und ‚mise en reflet/série‘. In: Helbig, Jörg (Hg.): Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger. Heidelberg: Universitätsverlag WINTER 2001, S. 49-84.

HM | Hutcheon, Linda: Historiographic Metafiction. Parody and Intertextuality of History. In: O’Donnell, Patrick; Davis, Robert Con (Hgg.): Intertextuality and Contemporary American Fiction. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1989, S. 3-32. Online verfügbar unter: http://hdl.handle.net/1807/10252. [Zuletzt abgerufen am 20. August 2015 um 11:58 Uhr.]

M | Waugh, Patricia: Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction. London: Methuen 1984.

ME | Sprenger, Mirjam: Modernes Erzählen. Metafiktion im deutschsprachigen Roman der Gegenwart. Stuttgart: J. B. Metzler 1999.

MR | Zimmermann, Jutta: Metafiktion im anglokanadischen Roman der Gegenwart. Trier: WVT 1996.

NN | Hutcheon, Linda: Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox. New York: Methuen 1984.

PM | Alter, Robert: Partial Magic. The Novel as a Self-Conscious Genre. Berkeley: University of California Press 1975.

V | Kehlmann, Daniel: Die Vermessung der Welt. 12. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2005.