Braun (2002): Reiseschatten

Braun, Peter: „Reiseschatten: Peter Schlemihls wundersame Geschichte von Adalbert von Chamisso.“ In: Nischik, Reingard M. / Rosenthal, Caroline (Hrsg.): „Schwellentexte der Weltliteratur.“ Konstanz 2002, S. 143-164.
Schatten einer Palme | Prosa & Papier

(1) Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft: Dem sich festigenden symboltheoretischen Kulturbegriff nach „können alle Gegenstände und Elemente der Erfahrung mit einer spezifischen Bedeutung belegt und so zu Teilen eines symbolischen Systems werden“ (S. 143), Kultur als komplexes Wechselspiel muss erschlossen werden. Das sich um 1800 durchsetzende neue Verständnis vom Subjekt spiegelt sich auch in der Literatur (Produktion und Rezeption), die sich damit einhergehend autonomisierte. Beide Wissenschaften zusammen, die der Kultur und die der Literatur, führen unter anderem zu einer kulturwissenschaftlich orientierten Textinterpretation. Diese „versucht zu rekonstruieren, in welche zeitgeschichtlichen diskursiven Prozesse ein literarischer Text eingebunden ist und zugleich dessen ästhetische Gestaltung zu gewahren“ (S. 144), was möglich wird durch eine doppelte Perspektive.

(2) Schwellentext: Braun wählt ein kulturhermeneutisches Verfahren für seine Auseinandersetzung mit Adelbert von Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Ausgangspunkt der Untersuchung bildet das Paar Siebenmeilenstiefel, die Peter Schlemihl zukommen. Sie lösen nicht nur eine Geschwindigkeitsphantasie aus, sondern geben der Geschichte auch etwas „unheimlich Fluchtartiges“ (S. 145), was sich in der gegenwärtigen Gesellschaft widerspiegelt. Diesem Märchenmotiv entgegen steht ein Paar Pantoffel, als „Hemmschuhe“ fungierend, das der „sozialen Lebenswelt des bürgerlichen Milieus“ (S. 146) entstammt. Dieses innertextliche Verfahren zeigt sich auch auf der Metaebene: Chamissos Text ist für Braun ein hybrider Text, „der eingespielte Ordnungen brüchig gegeneinander führt und übereinander schichtet und damit sein irritierendes, literaturwissenschaftlichen Einordnungen sich entziehendes Konstruktionsprinzip offen legt.“ (S. 146)

(3) Das Verhältnis des Realistischen zum Phantastischen: Auffällig ist die Abweichung des Textes von damals etablierten Handlungstopoi und Erzählmustern. Der Text trägt Züge des Kunstmärchens und beinhaltet Motive märchenhaft-phantastischen Charakters, jedoch nisten sich diese im Realen ein und sind der Logik des Sozialen unterworfen. Gleichzeitig ist er „ein retrospektiv verfasster Lebensbericht, der die Geschichte einer geistigen Entwicklung erzählt“ (S. 148). Beide Gattungen werden und bleiben ineinander verschränkt.

(4) Schatten: Das Motiv des Teufelspakts wird in den Schattenhandel ausgelagert und aufgeschoben wegen der Verdinglichung und daraus resultierenden Sichtbarkeit des Schattens. Die Verdinglichung des Schattens geht einher mit „einem Detailrealismus der Sprache […], der sie erst hervorbringt.“ (S. 151) Der alten abendländischen Tradition entsprechend verknüpft Chamisso Seele und Schatten miteinander.

(5) Physiognomische Schattenrisse: Der Schatten selbst und seine Darstellungsweise ermöglichen die wundersame Begebenheit im Text. Davon ausgehend untersucht Braun die verschiedenen Diskurse um 1800, die „ein ‚System der Gleichzeitigkeit‘ bilden“ (S. 151f.) und in denen sich der Schatten wiederfindet. Die Bedeutung des Schattens, so zeigt Braun, ist in jeder Zeit unterschiedlich. Weinrich sieht im Schatten den „Verlust des kulturellen Gedächtnisses“ (S. 152), Detering interpretiert den Text als „ironisch verschlüsselte Biographie eines Homosexuellen im 19. Jahrhundert“ (S. 152), von Wilpert nennt den Schatten den „Initiator eines geistreichen Erzählspiels“ (S. 153). Zwei wichtige Diskurse um 1800 sind das Phänomen der physiognomischen Schattenrisse (unter anderem Lavater), das sich im Text durch das Paradigma der Empirie belegen lässt, und der Diskurs der Schattenspiele.

(6) Das Schattenspiel: Mit dem Interesse an alten Erzählformen in der Romantik kam auch ein neues Interesse an Puppen- und Schattenspielen auf Jahrmärkten und Volksfesten. Darin erkannten die Romantiker „Spuren jener ursprünglichen poetischen Qualität, die sie dem Alten zuschrieben, und die sie gegen das in ihren Augen fade bürgerliche Schauspiel der Stadttheater setzten.“ (S. 156) Mit der Literarisierung der Schattenspiele durch die Romantiker wurde aus der ursprünglich losen Verbindung der einzelnen Szenen und Bildfolgen eine neue Gattung (zuerst: Justinus Kerner, Die Reiseschatten, 1811). In Chamissos Erzählung wird mit dem Schatten gespielt, sie wird „zu einem Resonanzboden der Schattenspiele“ (S. 159), auf dem der Schatten zu einem physikalischen Körper wird. Der Text ist, vor allem im Hinblick auf die visuelle Repräsentation, ein Schwellentext, unter anderem durch die sich abzeichnende positive Wendung des Schattens.

(7) Fortschreibungen: Die nach 1818/19 entstandenen Fragmente Chamissos stärken die Verbindungen zu den zeitgeschichtlichen Diskursen der Physiognomie und der Schattenspiele, denn er nimmt „in offener Weise gegen den Mesmerismus als eine moderne Form der Magie Stellung.“ (S. 160) Die Figur Peter Schlemihl, die erneut auftaucht, tritt wieder auf als „genügsam-nüchterner Außenseiter, der sich sowohl mit seinem persönlichen Schicksal als auch mit den gesellschaftlichen Zeitläuften abzufinden gelernt hat“ (S. 161). Erst die Schattenlosigkeit hilft ihm, den Mesmerismus zu durchschauen.

(8) Koda: Chamissos Text in verschiedener Hinsicht ein Schwellentext. Philologisch/sprachlich werden epochenübergreifend Stil- und Gattungsmerkmale vereint und schafft so eine hybride Ordnung, diskursiv „zeigt sich der Text in ein vielstimmiges Ringen verstrickt“ (S. 162), die Frage nach der Bedeutung des Schattens bleibt dabei offen.


In seinem Text unterstützt Braun nachhaltig seine These des Schwellentexts. Der Fokus liegt dabei auf der Verbindung von Subjektivitätsdiskurs um 1800 und kulturhermeneutischem Verfahren. Dieses Verfahren ermöglicht es ihm, ergiebig Texte zu untersuchen, die mehrere Stil- und Gattungsmerkmale verbinden. Die kulturwissenschaftliche Betrachtungsweise, vor allem mit Berücksichtigung epochenspezifischer Ausprägungen,  dient als Anstoß für weitere Forschung auf dem Gebiet.