Charvát (2006): Richard Weiner oder Die Kunst zu scheitern

Charvát, Filip: „Richard Weiner oder Die Kunst zu scheitern. Interpretationen zum Erzählwerk. Mit einer vergleichenden Studie zu Franz Kafka.“ Ústi nad Labem 2006. (Hier: „Untersuchung zu Hra na čtvrcení“, S. 250-283)
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Die Ereignisfolge in der Darstellung: Charvát liest Hra doopravdy (Spiel im Ernst, 1929-1931; abgekürzt Hdo), bestehend aus Hnč (= Hra na čtvrcení / Vierteilungsspiel) und Hnčzo (= Hra na čest za oplátku / Spiel auf Ehre im Vergeltung), als Doppelroman. In Hnč findet sich auf der Ebene der Darstellung keine Geschichte. Das Geschehen, also die Ereignisfolge in der Darstellung, gliedert sich in vierzehn Abschnitte.

Zeit: Zirkuläre Geschehensstruktur und Geschichte der Erzählung: 2.1 Die Zirkuläre Struktur der Erzählung: Die Erzählung zeichnet sich durch eine zirkuläre Struktur aus. Abschnitte I-XI machen den Ereigniskomplex aus, in Abschnitt XIII wird dieser variiert. Die Ereignisse lassen sich wiederum in drei Phasen teilen, die sich jeweils einmal wiederholen. Charvát teilt die Geschichte anhand dieser Phasen in ein Schema ein, dabei stehen die Zyklen der Phasen zueinander in einem Ähnlichkeitsverhältnis in Bezug zu Thematisierung, Motive und Figuren und ihre Kombination innerhalb der Phasen. 2.2 Geschichte: Es kann „von einer Geschichte […] nicht die Rede sein“ (S. 260). Charvát begründet dies mit diversen Unstimmigkeiten der linearen Entwicklung der dargestellten Handlung. In den Abschnitten I-XI und XIII wird nicht dieselbe Geschichte erzählt, die Wiederholungen im zweiten Abschnitt divergieren. Mithilfe von Konstanten der sich ungefähr wiederholenden Ereignisse entnimmt Charvát dem Text ein gleichbleibendes Handlungsschema (vgl. S. 261). Die Geschichte bietet mehrere Versionen der Interpretation, so kann sie beispielsweise als Selbstmord gedeutet werden. Festzuhalten ist: Eine definitive Bestimmung der Geschichte sowie die letztendliche Erklärung des Sinnes sind unmöglich.

Figuren: Die wichtigste Konstante der Erzählung und der Schlüssel für das Verständnis ist das Ich, gespalten in Erzähler- und Protagonisten-Ich. „Der Bericht des Erzähler-Ichs ist durchgehend einfach auf das Protagonisten-Ich fokalisiert. Es erfährt dabei keine explizite äußerliche Beschreibung.“ (S. 265f.) Das Ich reflektiert sich über und in einem Figurenpaar. An allen Hauptfiguren, die einen Typus vertreten und ihn mangelhaft verkörpern, wird das Zweideutige hervorgehoben. Neben wesentlichen Selbstspaltungen (bspw. Smíšek) finden sich gelegentliche, akzidentielle Auf- und Abspaltungen der Figuren. Wie die Darstellung ein Geheimnis bleibt, so bleibt auch die Metaphorik der Figuren unlösbar.

Selbstzitate: In Bezug auf Weiners Gesamtwerk zeigen sich auch in Hnč zahlreiche Selbstzitate. So wird in verschiedener Art unter anderem referiert auf Netečný divák, Kostajnik, oder Prázdná židle. Dabei ist allerdings zu beachten: „Die häufigsten Anspielungen legen es umgekehrt nahe, Hnč in seinen Teilen oder auch als Ganzes nach der Anlage früherer Erzählungen zu begreifen: Mit dem Tod enden sehr viele seiner Erzählungen, fast alle thematisieren ihn an einer zentralen Stelle.“ (S. 270)

Thema: In Hnč geht es um Aufbruch/Heimkehr, Selbstmord/Mord sowie Angst, Grauen, Entsetzen – „Thematisch geht es in Hnč also ums Ganze: Sein oder nicht sein – vor sich selbst und zu sich selbst, flieht das Ich.“ (S. 274)

Stil: Der Still bestimmt die typischen sprachlichen Verfahren der Darstellung näher. Charvát spricht von einer Kontinuität von Weiners Spätwerk, da in Hra doopravdy und Smazaný obličej dieselben poetischen Mittel typisch sind. Es können vier Verfahrensweisen ausgemacht werden: (a) Variation, (b) Fragmentarisierung, (c) Ambiguität, (d) Bildlichkeit. Sie dienen dazu, den Sinn des Textes offen zu halten.

Das Problem mit dem Erzähler – der Erzähler und seine Probleme: Leser und autodiegetischer Erzähler haben gleichermaßen Probleme mit dem Geschehen. „Das, was er erzählt, ergibt weder eine plastische Geschichte, noch hat es einen klaren Sinn.“ (S. 280) Der wiederholende Bericht spiegelt jedoch sein Bemühen, das Vorgefallene zu schildern. Während also der Sinn der Geschichte unklar ist, besteht aber ein Zwang, sich diesen zu verdeutlichen. Neben der Tatsache, dass der Erzähler, quasi als Schatten des Ichs, in den Hintergrund tritt, besteht die Problematik der „Bestimmung des zeitlichen Abstands zwischen dem Akt der Narration und dem erzählten Ereignis“ (S. 281). Doch gelesen als Geschichte eines Selbstmords, wäre Hnč „als Darstellung eines ganzen Lebens zu begreifen: Das Ich würde im radikalsten Sinne von sich träumen.“ (S. 282)

Der Schluss der Erzählung: Der Schluss der Erzählung lässt besonders viele Deutungen zu. Eine Deutung ist die des Scheiterns des Ich – es dreht sich am Ende zwar alles um das Ich, es selbst vernimmt aber nur noch passiv die Ordnung der Dinge statt sie selbst zu ordnen, hat also einen Haltungswechsel vollzogen. Dieser Haltungswechsel wird veranschaulicht im Symbol, der Ellipse und in der Ironie.


Charváts Theorie vom Doppelroman, in deutlicher Abgrenzung zur bisherigen Forschung, begründet er mithilfe seiner genauen Textanalyse strukturalistisch und unter Beachtung diverser Merkmale. Dabei untersucht er, in gut nachvollziehbarer Weise, sprachliche Merkmale und vor allem den Aufbau der Erzählung, wodurch seine Argumentation schlüssig wird.