Shapiro (2004): Rereading Dostojevkij’s Dvojnik

Shapiro, Marianne: „Rereading Dostojevkij’s Dvojnik.“ In: „Russian Literature LVI (2004)“, S. 441-482.
Pflanze | Prosa & Papier

Mit seinem einzigartigen Status als Kommentator Russlands und der russischen Seele hat die bisherige Forschung Dostoevskijs experimentellen Kurzgeschichten vernachlässigt. Sein Werk Dvojnik sieht Dostoevskij selbst als Zergliederung aller russischen Positionen Autoritäten gegenüber und als kosmische Allegorie. Für Shapiro gehört Dvojnik zu den „most adventurous and experimentally fascinating works in Dostoevskijs oevre“ (S. 441).

Die Erzählung erhielt vorwiegend negative Kritiken, vor allem aufgrund der Aufarbeitung der Themen Gogols, aber auch wegen der mysteriösen Erscheinung der Figur Goljadkin.

Shapiro nennt Dvojnik „a masterpiece of tragicomic mimesis instancing a foresighted, inspirational literary logic“ (S. 442). Goljadkin Senior hat seinen ersten Doppelgänger in Godjadkin Junior, der sich von erstem bald löst und ihn übertrumpft. Bemerkenswert ist die visibility des Doppelgängers sowohl für Goljadkin Senior als auch für den Rest der Gesellschaft, und auch sein Siegen über den host. Darüber hinaus finden sich weitreichende Parallelen zu Gogols Die Nase, unter anderem verschwimmen die Bereiche des Privaten und Öffentlichen in beiden Werken auffallend. Diese Parallelen, die Dostoevskij zieht, dienen dazu, GogolsGedanken und Techniken neu zu überdenken.

Bachtin erkennt Goljadkin Seniors emotionale Abhängigkeit vom „discourse of others“ (S. 447) und stellt drei zusammenhängende Reaktionen Goljadkin Seniors zu diesem Diskurs heraus: (1) self-reassurance and comfort, (2) the desire to hide from other’s discourse, avoid attracting attention to himself, (3) concession or subordination, a submissive assimilation of that external discourse (S. 448).

Zu Dostoevskijs bahnbrechenden Strategien zählt sein Verfahren, Goljadkin Senior paradoxerweise als „prisoner of centrifugal motion“ zu zeigen, der von einer ihn bewegenden kinetischen Energie ergriffen ist, die „cinematically, running, jumping, skidding, shooting off in directions opposed to his ‘spoken’ attentions“ (S. 455). Diese automatischen Bewegungen sind bedingt durch seinen psychischen Zwang. Goljadkin Seniors Ehrlichkeit erscheint als Parodie des zeitgenössischen Diskurses zum Thema sincerity und honesty. Seine pathology wird zu Beginn beleuchtet, sein character wird ausgeformt, sobald die Geschichte beginnt. In der Geschichte wird kein Bildungsweg als solcher beschrieben, es ist vielmehr infernal repetition, die sich im Text findet. In dieser Weise fehlt es an einer Klimax, der Leser findet sich in einer Situation ohne Ausgang wieder, ohne Lösung. Eine andere Strategie Dostoevskijs verdeutlicht die Idee von continuity in general. Goljadkin Seniors schnelle Bewegungen lassen sich kaum nachvollziehen, wodurch sich auf der Ebene des plots Überlappungen ergeben. Somit legt er offen „that no action here can be definitively isolated from its context“ (S. 458). Auf Textebene verhilft die Geschäftigkeit Goljadkin Senior zu Entlastung. Es finden sich auf der Ebene der sprachlichen Techniken im Text viele fillers – sie dienen Dostoevskij dazu, die Entleerung des Sprechers zu repräsentieren. Die Reihung diverser Adjektive, „hyberbolizing the least important ones“, steht wiederum im „service of pathology“ (S. 460). Die „absence of a summation“ (S. 462) steht für und komplettiert die essentielle Doppelzüngigkeit des Texts.

In der Kritik am Werk erkennt Shapiro die Doppelung des im Text vorgeführten Konflikts: „Pity and fear, co-present, occur in readers as the by-products of a complex interplay between identification with GS (pity) and the fearful recognition of and fascinated revolution from the realia of GS’s behavior (fear).“ (S. 462) Für Shapiro liegt der große Unterschied zwischen Goljadkin Senior und seinem Doppelgänger, Goljadkin Junior, im permanenten Scheitern von Goljadkin Senior in der Öffentlichkeit, während Goljadkin Junior ausschließlich Erfolge zu verzeichnen hat. Damit grenzt sie sich von Kritikern ab, die in Goljadkin Junior eine Schuldfigur Goljadkin Seniors sehen. Als „object of pursuit“ (S. 465) und „wish-fulfillment figure“ (S. 469) kann, so Shapiro, Goljadkin Junior keine Projektionsfläche von Goljadkin Senior sein. Goljadkin Junior erspürt dagegen keinerlei Drang, mit Goljadkin Senior, dem „textbook example of subject-object confusion“ (S. 470), eins zu werden.

Eine Kernfigur der Doppelgängertradition, die Wiederholung, wird von Dostoevskij in allen Variationen vorgeführt. Die Doppelung findet sich beispielsweise auf sprachlicher Ebene: „one linguistic signifier […] emerges with GS and GJ as two signifieds in a linguistic reproduction of pure irony“ (S. 470).

Der Erzähler nimmt im Text eine besondere Stellung ein. Einem Kameramann gleich bewegt er sich nur auf Augenhöhe und mit seiner Flexibilität zerstört er jegliche Stabilität. Ironie zeigt sich in der Erzählung nicht nur verbal, sondern auch in Gestik, Mimik und Bewegung – allmählich verwandelt sich das Setting zur Bühne. Thematisiert und problematisiert wird der Schauspieler als „standard or model of human behavior“ (S. 472).

Wegen seiner netzartigen Konstruktion, seiner narrativen Methode und der abgebildeten sozialen Typen ist Dvojnik eine moderne Geschichte.


Shapiro beschäftigt sich hier mit den experimentellen Kurzgeschichten Dostoevskijs, und geht damit über die bisherige Forschung hinaus. Sie interpretiert nicht nur Goljadkin Junior neu, sondern bezieht auch den Leser mit ein. Darüber hinaus verweist sie auf die cineastische Arbeitsweise des Erzählers und liefert somit neue Anregungen zur Forschung zu den Themen Medienwechsel, Intermedialität, Fiktionalität und Erzählforschung. Auch wenn sie Dostoevskij scharfsinnig von Poe und Hoffmann abgrenzt, scheint ihr Text insgesamt recht unstrukturiert und weist Sprünge auf, weswegen ihrem Gedankengang zeitweise schwer zu folgen ist.