Von Matt (2006): Die Intrige

Matt, Peter von: „Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist.“ München 2006.
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„Die Intrige ist ein universales Element der erzählenden Menschheit.“

S. 457

Vorspiel mit der Teufelsmantis: Die Studie Die Intrige von Peter von Matt ist der Versuch einer Morphologie der literarischen Intrige. Der Kosmos des Lebendigen ist untrennbar verbunden mit Lüge, Täuschung, Tücke und Hinterlist. Diese Phänomene finden sich nicht nur unter Menschen, sondern auch bei Tieren und Pflanzen, in Form von (1) Simulation, des Vorspiegelns, was nicht ist, oder (2) Dissimulation, dem Verheimlichen oder Verdecken der wahren Beschaffenheit. Diese beiden Formen sind, im Zusammenspiel, oft bei der Intrige vorzufinden. Dabei hat der Akt der Verstellung, bei Mensch wie in der Natur, stets einen Zweck, der durch eine Schädigung erreicht wird. In der Literatur wird die biologisch programmierte Hinterlist, die Intrige, reflektiert.

Erster Teil: Entwicklung eines Intrigenmodells. I Der Plan und die Planszene: In Bezug zur Hinterlist, zur Intrige, trennt den Menschen die Planszene vom Tier, indem diese vom Mensch selbst geplant wird, und nicht von der Biologie gesteuert ist. Die Planszene ist das erste Element im strukturellen Aufriss der Intrige und ihr Schlüsselereignis, exemplarisch bei Iphigenie bei den Taurern von Euripides. Die Voraussetzungen für eine Planszene sind (1) die Erfahrung einer Not und (2) die Vision eines Ziels, nämlich die Rettung aus dieser Not, nach (3) der Planszene folgt (4) die Intrigenpraxis. II Von der Planszene zum Intrigenvollzug: Die Intrige in der Literatur kann in ihrem elementaren Vorgang einer morphologischen Anatomie unterzogen, einzeln getrennt und untersucht werden. Beim Intrigenvollzug stellt die Verkleidung eine „eigene, exquisite und großartige Dimension der Verstellung“ (S. 41) dar. III Erster Schritt in der Erforschung des Aktes der Verkleidung: „In der Verkleidung radikalisiert sich die Verstellung.“ (S. 46) Die Verkleidung als Simulation einer anderen Identität ist ein in der Weltliteratur vielfach vorzufindendes Spektakel, für die Intrige aber keineswegs unabdingbar. IV Die Verkleidung im Märchen – einfach: Unter Intrige versteht von Matt „geplante, zielgerichtete und folgerichtig durchgeführte Verstellung zum Schaden eines anderen und zum eigenen Vorteil.“ (S. 54) Die Art der Verstellung macht dabei das Besondere einer Intrige aus. In der Literatur, exemplarisch nachvollziehbar beim Märchen von Schneewittchen, ist die Verkleidung die einfachste und älteste Form der Verstellung. V Die Verkleidung im Märchen – komplex: Während das Märchen weder begründen noch beweisen muss und die Dinge im Märchen als gegeben hingenommen werden, benötigt der Roman Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit. Trotzdem kann die Verkleidung unabhängig von der literarischen Gattung vom simplen Trick zu einem vielschichtigen Vorgang werden. VI Ein Menschheitsziel: Die Fähigkeit der Götter, sich jederzeit in jede Gestalt verwandeln zu können, gehört zu denen, die sich der Mensch seit jeher auf technischem Wege zuzuführen versucht (vgl. Freuds Begriff des Prothesengotts). Die Tradition des Erzählens von magischen Praktiken u.a. Faust, Athene/Odysseus) ist lang. Auf magische Praktiken als Teil des mythischen Denkens folgte die technische Zivilisation als zivilisationsgeschichtlicher Wendepunkt. VII Ein Virtuose der Verkleidungstechnik: Der Roman Der Schakal (1971) von Frederick Forsyth ist im Hinblick auf die Praxis der Verkleidung innerhalb der Intrige aufschlussreich. Im Spiel mit dem Dokumentarischen werden Intrige und Gegenintrige inszeniert und der Vorgang der Verkleidung als wissenschaftlich-technischer Akt auf dem neusten Stand der Kunst gezeigt. VIII Zur Anthropologie der Kleider und der Verkleidung: Dass die Prozeduren der Verstellung als Verkleidung enorme Anziehungskraft auf die Leser ausüben, zeigt der Schakal. Die Faszination des Geschehens ist verknüpft mit den Geheimnissen von Kleidern und Kleidung sowie Kleidung und Verkleidung, mit der Regel „Kleider machen Leute“ (S. 80). Dabei ist die Hauptwahrheit nach von Matt: „Ich werde zu dem, was ich trage.“ (S. 81) Das biblische Beispiel von Adam und Eva verdeutlich, dass jede Verkleidung zum Akt der Freiheit gegenüber dem Grundzwang wird. In der Intrige ist die Verkleidung „eine körperhafte Form der Lüge“ (S. 85). Die Faszination der Intrige hängt zusammen mit der für die der Verkleidung. IX Nochmals der Virtuose der Verkleidungstechnik: Im Schakal ist der Akt der Verkleidung an schwere Verbrechen geknüpft. X Intrige und Gegenintrige als Spektakel der Moral: Die Gegenintrige als komplexer Faktor in der Dynamik der Literatur ist keine zwingende Handlung, kann jedoch die Spannungsstruktur verdoppeln. Als Rettungsaktion ist sie also (1) potenzierte Dynamik und zugleich (2) erweiterte Möglichkeit zur Inszenierung moralischer Normen. In der Literatur dient die Intrige als Motor und treibende Kraft zur Vernichtung der Guten respektive Bösen. XI Das Doppelgesicht der Freiheit in der Verkleidung: Die Freiheit in der Verkleidung kann stets doppelt gelesen werden, (1) rousseauistisch-romantisch als Befreiung vom Zwangssystem der Gesellschaft des guten Urzustands, (2) voltairanisch-aufklärerisch als Rückfall aus der heilsamen Zivilisation in ein barbarisches Naturverhalten. XII Gut und Böse in der Literatur: Das Urteil über die moralische Qualität der Intrige mit ihrem Doppelgesicht von Rettung und Vernichtung ist schwierig. XIII Übersicht über die Elemente des Intrigenmodells: Die Kernelemente des Intrigenmodells sind Notsituation und Zielphantasie, die zur Entstehung eines Plans führen. Das Intrigensubjekt kann Helfer haben, die als freiwillig oder unfreiwillig (dann: Intrigenopfer) agieren, sowie Intrigenrequisiten. Die Verdopplung der Intrige ist angelegt in der Gegenintrige. Zu den Formen der Verstellung zählen Verkleidung, Körperverstellung, Intrigenstimme, Intrigenschrift, mimetische Verstellung. Der Intrigant kann sich auszeichnen durch Intrigengeduld und Intrigengenuss. Das Aufdecken der Intrige nennt sich Anagnórisis, die oft durch Erkennungszeichen (Gnorisma) angedeutet wird. XIV Anagnórisis – der Augenblick der Wahrheit: Die Anagnórisis kann auflösend oder endgültig niederschmetternd sein und bietet einen reichen Vorrat an dramaturgischen Mustern. Sie fokussiert zentrale Fragen der Sittlichkeit und definiert die Intrige als sittlich-moralisches Spektakel. XV Die Anagnorisis-Theorie bei Aristoteles: Bei Aristoteles ist die Anagnórisis eins „der machtvollsten Elemente der dramatischen Kunst“ (S. 133) und steht so gleichberechtigt neben der Peripetie. Sie hat unmittelbare Konsequenzen in der Handlung und hat für den Leser eine abgründige Faszination.

Zweiter Teil: Anwendungen. Ausarbeitungen. XVI Medea: „In der Intrige beginnt ein Geschehen. […] Immer […] setzt sie in Bewegung, was sich sonst nicht ereignen würde.“ (S. 142) Die Hauptfrage aller Literatur ist die nach dem Primum movens des literarischen Geschehens. Während die  Anagnórisis Wahrheiten und Normen des Werks zum Vorschein bringt, offenbart die Planszene als Gegenstück das Primum movens. Der Akt der Planung,, hat eine doppelte Dimension, (1) anthropologisch und erzähltechnisch lässt er beginnen, was zum Spektakel, explizit oder implizit mitgeteilt, wird, (2) anthropologisch und philosophisch deckt er die Kategorien auf, deretwegen Menschen hohe Risiken eingeht. In der Tragödie von Medea werden alle Phasen von Wunsch, Plan und Durchführung explizit dargestellt, weswegen sie wichtig für die Morphologie und Geschichte der Intrige ist. „Medeas Verstellung ist eine Inszenierung der Intrigenstimme von monumentaler Art“ (S. 153). XVII Das Primum movens und die Motivierung: Das Primum movens in der Medea-Tragödie ist die Liebe als innerseelische Macht. Um die Planszene begreifen zu können, bedarf es einer Motivierung, also der „Kunst des Autors, das Handeln seiner Figuren dem Publikum plausibel zu machen.“ (S. 156) Euripides schafft es, Medeas Tat mittels dreier Faktoren zu motivieren: (1) Medeas extreme Passion, (2) ihr Stolz, (3) Ruhm, der für die Griechen eine Form der Unsterblichkeit dargestellt hat. XVIII Eros und Ökonomie: Das Doppelte Primum movens in der Komödie: Geschichtlich kommt die dramatische Intrige von der Tragödie zur Komödie. Diese wiederum „entwickelt dann rasch eine routinierte Intrigenfabrikation, ein eigentliches Handwerk der Intrigenfindung und -durchführung.“ (S. 161) XIX Eros und Ehre: Die Komödie mit dem verrücktesten Intrigenrequisit: Das Primum movens in der Frauenkomödie Dame Kobold (1629) von Pedro Calderón de la Barca ist der Liebeswille einer jungen Frau. Das Stück bewegt durch doppelte Kühnheit, durch (1) die riskante Intrige und (2) ein großes Stück Ehrlichkeit. XX Der epochale Intrigant: Der Anfang von Shakespeares King Richard III. ist für von Matt die „berühmteste, krasseste, unglaublichste Gestalt des zu einer dramatischen Szene verdichteten Intrigenplans“ (S. 175), in dem Richard nicht nur Ziel, sondern auch den Vollzug, die praktizierte Verstellung, offenbart. Mit der Figur des Richard als prototypischen Intriganten, so von Matt, beginnt die Neuzeit und der Mensch erfährt sich als allein. XXI Von der Geburts- zur Todesszene: Spricht die Literatur häufiger vom Tod als von der Geburt, sind sie doch gleich wichtige Ereignisse. Richard III. bildet eine Ausnahme, indem seine Geburt häufiger thematisiert wird, sein Tod hingegen abseits der Bühne geschieht. Durch souveräne Logik versucht er, sich seiner Selbst zu versichern, darin tritt er als autonomes Subjekt auf.

Dritter Teil: Theorie der „Diabolischen Dichtart“. XXII Der Intrigant als Abtrünniger: Der Intrigant kommt in Zeiten geschichtlicher Umbrüche besonders zum Vorschein, beispielsweise in der elisabethanischen Renaissance und in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Mit Francis Bacon wird die naturwissenschaftliche Erkenntnis von Philosophie und Theologie losgelöst und der Zweifel zur Pflicht erklärt. „Der kategorische Imperativ des Intriganten lautet daher: Handle so, daß alles, was du unternimmst, Teil einer höheren Lenkung sein könnte, die dich, unabhängig von Gut und Böse, zu dem von dir gewünschten Erfolg führt.“ (S. 197) Den von Shakespeare übernommenen Satz when avoided grace makes destiny markiert von Matt als die ‚eigentliche‘ Definition der Intrige, wodurch der Intrigant zum Schicksalsmacher wird, also zu einem, der die Funktion übernimmt, die bisher den Göttern zugesprochen wurde. In zivilisationsgeschichtlicher Perspektive meint die Intrige „metaphysischen und theologischen Abfall. Apostasie.“ (S. 201) In den Bereichen der Modernisierung hat die Intrige ihren Ort. Der Intrigant kann auf zwei Arten auf sein eigenes Handeln reagieren: (1) mit Triumph und Siegesgewissheit, er kann sich also seines Handelns rühmen (Bsp.: Shakespeare, Tamburlaine the Great), oder (2) mit Scham, Zerknirschung und Reue (Bsp.: Schiller, Don Karlos). XXII Die „diabolische Dichtart“: Der Intrigenbauer imitiert numinose Mächte, dabei ist stellt der Teufel als Denkfigur die vermittelnde Figur dar. Der Intrigant als Teufel findet sich in Shakespeares Figur des Jago wieder, mit dem sich der Übergang vom theologischen Teufel zum innerweltlichen Intriganten vollzieht. Die Theorie der diabolischen Dichtart, die Schlegel entwickelt, stützt sich auf die theoretische Arbeit der Intriganten selbst. XXIV Schiller dekonstruiert die Vorsehung: Als der konsequenteste Dramatiker der Intrige in der deutschen Literatur tritt Schiller aufgrund seiner Vernetzungskonstruktion der Intrigen hervor. Nicht nur beschreibt er das Weltgericht als die größte Anagnorisis der Weltgeschichte, auch ist Wallenstein aufgrund der Spannung zwischen transzendenter und immanenter Vorsehung aufschlussreich für die Theorie der diabolischen Dichtart. XXV Nietzsche attackiert die Intrige fundamental: In der Intrige sieht Nietzsche eine angemaßte Schicksalsstiftung durch den Menschen, und so attackiert er auch die zielgerichtete Verstellung auf der Bühne grundsätzlich. Die Intrige sei das Schlüsselsymptom für den Zerfall der tragischen Kunst, das zerstörerische Element im Streben nach der Einheit der Künste. So betrachtet werden die Intrige zum zivilisationsgeschichtlichen Schlüsselereignis, zur praktizierten Hybris der Vernunft und der Intrigant zum Abtrünnigen. XXVI Die Geburt des Intellektuellen aus dem Teufel: Bei Dante, im Inferno, tritt der Teufel als Logiker auf und Verstellung, List und Planung seien wider Gottes Gesetz und würden somit Verdammung verdienen. Bei Heine wird der Teufel zum Selbstdenker, zum Aufklärer. In der Gegenwart passiert Interessantes: „Der Intellektuelle kippt in den Teufel und der Teufel in den Intellektuellen.“ (S. 232) XXVII Die Provokation von „Gottes Mummerey“: Martin Luthers theologische Theorie für das tägliche Eingreifen Gottes in das Weltgeschehen begreift den Lauf der Welt als Gottes Mummerei, als Maskenspiel respektive Sich-Verkleiden und fordert vom Menschen, so zu leben und zu arbeiten, als sei kein alles-entscheidender Gott da. In einem solchen Gott sieht von Matt einen „Intrigengott größten Stils […], Machinator maximus“ (S. 238). In Anlehnung an Luther thematisiert Tasso das Konzept von der Mummerei des Teufels. XXVIII Der Weltintrigant: „Der Intrigant im strengen Sinn kann nur als eine Gestalt der Aufklärung gedacht werden, und zwar weniger ihres erreichten Ziels wegen als ihrer krisenhaften Geburt.“ (S. 246) Der Intrigant als Schicksalsmacher zielt ab auf die Abschaffung der Transzendenz. Die Vorstellung von einem Weltintriganten, der rund um die Welt laufende Fäden in der Hand hält, ist präzise entwickelt bei A. C. Doyle in der Figur des Prof. Moriarty und findet sich noch immer in Gegenwartsliteratur (bspw. Illuminati!-Triologie von Robert Shea/Robert Anton Wilson).

Vierter Teil: Vom Fuchs. XXXIX List und Lüge in Philosophie und Literatur: Die Untersuchung der Intrige (als praktizierte Lüge) in der Literatur ist verknüpft mit Grundfragen der Ethik und der Moral. Rigorose Ansichten zur Ethik des Lügens finden sich in der Bibel, bei Augustinus und Kant. Das poetische Pendent zu Kants Theorie bildet Goethes Iphigenie. Das epochale Signal des Werks ist: „Jede Intrige ist Verstellung, jede Verstellung ist Lüge und die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“ (S. 256) Goethe entwickelt zwei Extremfiguren: Einerseits Iphigenie als gelebte Wahrhaftigkeit, andererseits Reineke Fuchs als Schuft, der sich auszeichnet durch Tücke, Schlauheit und Verstellung, und alles tut, was Gott verboten hat. Der Fuchs gilt als „Imaginations- und Erfahrungsmuster der Weltkultur“ (S. 256) und findet sich bei Äsop gleichermaßen wie bei Forsyth. XXX Der Fabelfuchs: Gilt der Fuchs heute als schauer Sieger, Kernpersonal der Fabel und archetypische Verkörperung der List, existierten in der Antike auch Geschichten vom übertölpelten Fuchs. Erst der Physiologicus bereitet den Weg zum Bild vom listigen Fuchs, das sich im europäischen Mittelalter festigt. In der theologischen Theorie wird der Fuchs als Verkörperung des Vollzugs der Sünde betrachtet, als derjenige, der auslebt, wozu der Teufel verführt. Indem der Fuchs allerdings keine menschliche Figur ist, sondern Tier, erhält er doppelte Deutbarkeit als (1) großer Sünder und (2) außermoralisches Wesen. XXXI Goethe, Fuchs und Teufel: Bei Goethe ist der Fuchs der unablässig Tätige und die Intrige ist seine tägliche Arbeit. XXXII Der Trickster tritt auf: Als Trickster definiert von Matt eine „mythische Gestalt, die sich weltweit in tausend Formen ausprägt und […] lebt vor allen Ordnungen. […] Es gibt kein Gesetz, dem er sich untertan fühlte“ (S. 277ff.), er „ist erwachsen und doch radikal infantil“ (S. 281). XXXIII Wie man mit dem Fuchs philosophiert: Indem der Fuchs ein Bild darstellt, ein Gefüge von Geschichten und Gefühlen, kann mit ihm gedacht werden, so wie beispielsweise Machiavelli in Il Principe (1513). XXXIV Max Weber neben Machiavelli: Weber und Machiavelli gehen davon aus, dass die politische Ethik eine andere ist als die jedes anderen menschlichen Tuns. Es zeigt sich, dass das Philosophieren mit dem Fuchs zu Überlegungen zu Herrscher, Politik, Macht und Ethik führt. XXXV Wie man mit dem Fuchs Theater spielt: Die Fabel vom Fuchs ist die Kerngeschichte und Keimzelle des großen Erzählens vom Fuchs in Europa. Ben Jonson hat daraus eine Komödie, The Fox, gemacht, in der die einmalige List der Fabel zum auf längere Zeit angelegten Mechanema wird. Das Primum movens ist hier der Selbstgenuss Volpones, des Fuchses, der von allen Normen freigesetzt ist. XXXVI Ein Intrigenhelfer: Im Fox ist Mosca der Intrigenhelfer von Volpone, der vom Instrument zum Partner und letztlich zum Gegenspieler heranwächst. Der Fox ist eine Variante des fox outfoxed, der durch seinen eigenen Fehler überlistet werden konnte. XXXVII Zur Beziehung zwischen Intrigant und Helfer: Der Helfer im Fox skizziert das Können des souveränen Intriganten. Das Einbinden eines Helfers im literarischen Werk ist zwar in Bezug zur Intrige nicht notwendig, trägt jedoch zur Komplexität bei. XXXVIII Das Paar als Täter. Ein Exkurs: Das Paar als Täter taucht schon in den ältesten Tragödien auf, findet sich noch in der Gegenwartsliteratur, und weist wiederkehrende Strukturen und Elemente auf. Zum Paar als Täter gehört „gleichzeitig die Liebe, die keine Hierarchie mehr kennt, und die Erschütterung der Geschlechterordnung.“ (S. 334) Exemplarisch tritt das Täterpaar bei The Postman always rings twice (1934) von James M. Cain auf.

Fünfter Teil: Zur Literaturgeschichte der Frauenintrige. XXXIX Vertreibung einer großen Intrigantin aus der deutschen Kultur: Das Lessing-Schiller-Komplott: Lessings vernichtende Kritik hat das Trauerspiel Rodogune von Pierre Corneille von den deutschen Bühnen vertrieben. Darin wird Cléopâtre vorgestellt, eine gnadenlose Meisterin der Verstellung und das weibliche Pendant zu Richard III. Obwohl seine Maria Stuart an Rodogune erinnert, stimmte auch Schiller Lessings Kritik zu. Der Verriss Lessings ist ein Zeichen des Beginns des bürgerlichen Theaters. XL Kleine Schule der Dramaturgie: Durch Lessings Kritik ändern sich das Kunstgefühl und das literarische Urteil in Deutschland dauerhaft, und somit verschwindet auch Cléopâtre aus dem kulturellen Gedächtnis der Deutschen. Corneille spricht seiner Cléopâtre zu, Lessing spricht sie ihr ab. Der Begriff der menschlichen ‚Größe‘ ist historischen Umbrüchen unterworfen und eng mit Ruhm verknüpft. Der „Größen-Diskurs prägt die Kulturgeschichte seit der Renaissance in jeder Epoche neu und anders.“ (S. 366)  XLI Frauentheorie und Ästhetik: 1767 skizziert Lessing seine Frauentheorie und sein bürgerliches Frauenbild: Cléopâtre verurteilt, da sie als nicht naturgemäß gezeigt werde und das dem Prinzip der Kunst verstoße – seiner Theorie nach seien Frauen zärtlich, der Liebe zugewandt und herrschen nur durch Liebkosungen. Seiner Theorie fügt er ein ästhetisches Gesetz hinzu, demnach die Ausnahme gegen die Natur verstoße; Literatur erfordere das Abbild der Mehrheit, den Durchschnitt. XVLL Der polemische Höhepunkt: Die Kritik Lessings zeichnet sich durch Witz aus, der mit einer Fallhöhe operiert, denn seine Kritik impliziert eine Theorie der ‚natürlichen Intrige‘, die im familiär-intimen Bereich spielt. XLII Zwei Haß-Arien im Vergleich: Jede Epoche der Kunst könne, so von Matts These, sich selbst nur verstehen aus der polemischen Abgrenzung von den ästhetischen Normen des vorhergehenden Zeitalters, weshalb in der frühen Moderne Figuren auftauchen, die zuvor als überholt und ästhetisch unerträglich verworfen wurden – so wie die Frau als unbedingte Hasserin. Die Hassrede von Hofmannsthals Elektra steht Lessings Meinung vom ‚natürlichen Wesen der Frau‘ entgegen. Bei ihr wird Hass zum „allnächtlichen Lover“ (S. 390), bei Cléopâtre wird der Hass allegorisch zum Lebenspartner personifiziert. Ihr Hass jedoch wird zum Willen zur Macht, zum königlichen Privileg. Sie kann „als ein exemplarisches Ereignis höfisch-feudaler Gefühlskultur und Machtstrategie“ (S. 395) gelten. XLIV Das Endspiel der höfischen Intrige: Der Hof, gelesen als Experimentalsituation für die Genese von Ordnung in der menschlichen Gesellschaft überhaupt, steht in Bezug zu seinen Kontrollmechanismen dem Dorf mit seinen Überwachungssystemen und Strafapparaten gegenüber. Verdeutlicht wird dieses System in Goethes Torquato Tasso, in dem sich Tasso durch zweimaliges Verstoßen gegen die Etikette letztlich selbst zerstört. Die einzig wirkliche Intrige des Stücks ist die der Leonore Sanvitale, die Tassos phantastisch-paranoide Gegenintrige zur Folge hat. Von Matts These lautet: „mit Goethes ‚Tasso‘ sei die naive Selbstverständlichkeit der höfischen Intrige als eines effektvollen Mittels für das deutsche Trauerspiel vorbei“ (S. 402). Für die Geschichte der Intrige ist Tasso vor allem von Bedeutung, da Goethe die Intrige zu einem seelischen Ereignis verschiebt. In der Folge wird die Intrige weiter in den städtischen Bereich, in die Metropole verlagert und wird zur „Bewachungs-, Überwachungs- und Verfolgungstätigkeit eines modernen Justizapparats“ (S. 407). Diese Verlagerung ermöglicht die Genese des Kriminalromans.

Sechster Teil: Die Intrige auf dem Weg in die Moderne. XLV Der weibliche Jago: An Balzacs Lisbeth Fischer, genannt Bette, Strindbergs Laura und Thomas Bernhardts Vera als drei Verkörperungen weiblicher Hinterlist zeigen sich die Wandlungen der Intrige und ihrer Protagonisten auf dem Weg in die literarische Moderne. Bei Balzacs Bette ist die Intrige das „Produkt des Verzichts auf die raubtierhafte Aggression“ (S. 412), hinter ihrem Handeln stehen Liebe und Rache. XLVI Die zwei Ziele der Intrigenschwestern: Bei Balzac findet sich eine Intrige, die zwei Ziele verfolgt: Valérie will Hulots Reichtum, Bette, mit ihrer Unerbittlichkeit einer gekränkten Frau, seinen Ruin. Bette rückt dabei in die Nähe von Elektra sowie von Cléopâtre, einerseits wegen ihres Willens zum zielgerechten Verstellungshandeln, anderseits wegen der erotischen Implikationen des Hasses. Im Gegensatz zu beispielsweise Volpone ist Bette jedoch keine Künstlerin in ihrem Intrigentreiben. XLVII Die Krise des Intrigensubjekts in der frühen Moderne: Der Roman des bürgerlichen Jahrhunderts handelt weiterhin vom Machtgewinn des Bürgertums. Die Subjektstruktur der Intriganten in den Metropolen ist bestimmt vom Modell des Selbstmachers; ein Vermögen zu machen wird in Verbindung gebracht mit Menschwerdung. Bei Strindberg besteht die List Lauras darin, ihren Mann glauben zu lassen, sein Kind könne nicht sein eigenes sein. Die Neuheit in der literarischen Intrigenkultur besteht darin, dass Laura zur Intrigantin, zum weiblichen Jago gemacht wird. In diesem Sinne ist Strindbergs Der Vater ein Stück, „das die Geschichte der Literatur verändert“ (S. 433). XLVIII Die Täter im Hades: Die Literaturwissenschaft kann den Begriff des Täterprofils aus der Kriminalistik übernehmen, um die epochenspezifischen Täter in der Literatur auszumachen. Dabei gilt: Ein Täter ist nicht immer ein Intrigant, ein Intrigant ist aber immer auch ein Täter. Die Handlungen des Intriganten weisen immer auf ein Anderes: Bei Balzac auf das Konzept des autonomen Subjekts, bei Strindberg wird das alte Täterprofil aufgelöst und somit auf die ästhetische Zeichenlehre der Moderne verwiesen. In Thomas Bernhards Vor dem Ruhestand (1979) macht der Begriff der Verschwörung alle Beteiligten zu gleicherweise Mitwollenden und Mithandelnden. Das Geheimnis des Stücks liegt in der Ritualität durch Claras unfreiwilliges Mitmachen, durch dieses wiederum gewinnt das Geschehen etwas von einem Hadesritual. Die Intrige des Stücks ist die von Vera, die „unter dem kollektiven Handlungszwang der Geschwisterverschwörung [steht], […] gleichfalls nicht ihr freies Wollen, Planen und Vollziehen [ist].“ (S. 451) Im Drama der Moderne wird die Freiheit des selbstbestimmten Subjekts als illusionär vorgeführt; die Moderne inszeniert das Problem der menschlichen Freiheit und Selbstbestimmung anders.

Nachspiel mit dem Secret Intelligence Service: In der literaturwissenschaftlichen Diskussion im deutschsprachigen Raum steht der Begriff Moderne für die Moderne und den Modernismus. Modernismus als Begriff hat sich weder etabliert, noch ist er deutlich definiert. Dennoch: Rückt auch der literarische Modernismus von der Intrige in Roman und Drama ab, lebt der Spionageroman von einer hochelaborierten literarischen Intrigenkultur. Ist die Intrige dort monumental, ist sie in modernistischer Literatur Rudiment geworden. In der Literaturwissenschaft wird der Spionageroman in der Folge der Trivialliteratur zugeordnet. Die Faszination des Spionageromans liegt in der „Intrigentätigkeit des Autors selber“ (S. 455). Von Matt schließt mit seiner Hauptthese: „Der literarische Intrigenbau mit dem Schauspiel seiner Auflösung ist verkörperlichte Moralphilosophie.“ (S. 465)


Peter von Matts Die Intrige erinnert im Vorgehen an die Untersuchung von Märchen, vor allem an die Morphologie des Märchens von Vladimir Propp (1972). Seine Arbeitsweise, eine Theorie der Intrige im Prozess zu entwickeln, ist lektüreintensiv, bietet aber auch den Vorteil einer nachvollziehbaren Argumentation. Die Verbindung zu Phänomenen in der Natur bietet einen aufschlussreichen und anregenden Übergang zur interdisziplinären Untersuchung der literarischen Intrige und knüpft an die empirische Untersuchung des Phänomens Lügen an. Insofern, und indem bisher wenig Forschungsliteratur zu diesem literarischen Phänomen erschienen ist, bietet die Studie eine hervorragende Anregung für weitergehende Untersuchungen.