Propp (1987): Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens

Propp, Vladimir: „Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens.“ München/Wien 1987. (Hier: Vorwort, S. 9f.; Kapitel I: Voraussetzungen, S. 11-38; Kapitel X: Das Märchen als Ganzes, S. 451-462.)
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Vorwort: Propp beginnt sein Werk mit „Bemerkungen technischen Charakters“ (S. 9): Seine Märchenverweise verstehen sich nicht als Beweise, sondern als Veranschaulichungen, und die Quellen stellen typische Fälle dar. In diesem Sinne ist sein Anspruch nicht, neue Fakten darzulegen, sondern neue Zusammenhänge herzustellen. Es ist ihm daran gelegen, Motive nicht isoliert zu betrachten, denn: „Die Märchenmotive sind so eng miteinander verbunden, daß sich in der Regel kein Motiv isoliert verstehen lässt.“ (S. 9)

Kapitel I: Voraussetzungen: 1. Das Hauptproblem: Das Verständnis des Begriffs Folklore, unter die das Zaubermärchen fällt, hat sich im Laufe der Zeit geändert: War es vor der Revolution „die Schöpfung der unterdrückten Klassen“ (S. 11), wird sie heute betrachtet als eine „Schöpfung des Volkes“ (S. 11). Die Folkloristik war so zunächst eine Teilwissenschaft der Literaturwissenschaft, wogegen sie heute eine eigenständige Wissenschaft darstellt. Bei der Frage nach der Bedeutung von Märchenforschung grenzt sich Propp von der Komparatistik ab und konzentriert sich bei seiner Untersuchung auf die historische Basis der Genese von Märchen. So formuliert er: „unser Ziel ist es, die Quellen des Zaubermärchens in der historischen Wirklichkeit aufzuzeigen.“ (S. 12) 2. Die Bedeutung der Voraussetzungen: Um Untersuchungen vorzunehmen, müssen sich Forscher ihre Voraussetzungen klar machen. Da die Märchenforschung bisher „keine völlig gesicherten und allgemein anerkannten Resultate gibt“ (S. 12), geht Propp davon aus, dass die Voraussetzungen der vorliegenden Arbeiten, zum Beispiel der mythologischen oder finnischen Schule, nicht korrekt gewesen sein mussten. Er stellt fest, dass jede Arbeit von ihrer Epoche beeinflusst ist, so ihre eigenen Voraussetzungen schafft und demnach auch die eigenen Voraussetzungen vor Beginn der Arbeit zu überprüfen sind. 3. Die Abgrenzung von Zaubermärchen: Die erste Voraussetzung für die Untersuchung ist, dass das Zaubermärchen eine besondere Kategorie des Märchens  bildet und für sich allein untersucht werden kann. Als Zaubermärchen definiert Propp

dasjenige Märchengenre […], an dessen Anfang die Zufügung irgendeines Verlustes, eines Schadens […] oder der Wunsch, eine Sache zu besitzen […], steht und das sich über die Stationen Abreise des Helden und Begegnung mit dem Schenker, der ihm ein Zaubermittel schenkt, mit dessen Hilfe der gesuchte Gegenstand gefunden wird. Im weiteren Verlauf bietet das Märchen den Zweikampf mit einem Gegner […], die Rückkehr und die Verfolgung. Oft ergeben sich in dieser Komposition zusätzliche Verwicklungen.

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Weitere Voraussetzungen sind, dass „kein einziges Sujet des Zaubermärchens […] sich ohne das andere untersuchen [läßt], und […]: kein einziges Motiv des Zaubermärchens läßt sich ohne seinen Bezug zum Ganzen untersuchen.“ (S. 15) 4. Das Märchen als Erscheinung mit Überbaucharakter: Propp stellt seine Untersuchungen „in der Epoche des Sozialismus“ (S. 16) an, und seine nächste Voraussetzung zum Studium von historischen Erscheinungen lautet dementsprechend: „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt.“ (S. 16) So sucht Propp die Produktionsweisen, die das Märchen bedingen. Nicht Kapitalismus oder Feudalismus bedingen es, so Propp, sondern muss weitergehende Wurzeln haben, die zu suchen sind. 5. Das Märchen und die gesellschaftlichen Institutionen der Vergangenheit: Wird das Märchen als Produkt betrachtet, bietet sich die Überprüfung der in ihm dargestellten Formen der Produktion an. Es zeigt sich, dass im Märchen wenig und selten unmittelbar produziert wird. Wichtiger als die Produktionstechnik ist jedoch, welche Gesellschaftsordnung dieser entspricht und unter Ordnung die Motive und das Märchen entstanden sind. Die konkrete Erscheinungsform der Ordnung sind Institutionen. Das heißt, es gilt die Voraussetzung, dass „man Märchen mit gesellschaftlichen Institutionen der Vergangenheit vergleichen und darin seine Wurzeln suchen muß.“ (S. 19) Neben Motiven, die mit Institutionen in Verbindung gebracht werden können, gibt es noch diejenigen, die sich unabhängig von diesen entwickelt haben. 6. Märchen und Ritus: Das Märchen hängt mit der Religion als kultische Sphäre zusammen. Zu untersuchen sind die konkreten Erscheinungsformen von Religion im Vergleich zum Märchen. Riten und Bräuche sind dann derartige Handlungen, „deren Ziel es ist, auf die Natur einzuwirken und sie sich untertan zu machen“ (S. 20), müssen jedoch voneinander abgegrenzt werden. Obwohl sich die genetische Erklärung vieler Motive in dem Vergleich mit Riten und Bräuchen findet, muss festgehalten werden: „Das Märchen ist keine Chronik.“ (S. 21) 7. Die direkte Entsprechung zwischen Märchen und Ritus: Die volle Übereinstimmung von Ritus und Brauch mit dem Märchen ist der einfachste und zugleich seltenste Fall. Die Untersuchung von der Darstellung im Märchen und der historischen Entsprechung kann zeigen, „daß ein bestimmtes Motiv auf den oder jenen Ritus oder Brauch zurückgeht, und seine Genese läßt sich erklären.“ (S. 21) 8. Die Uminterpretation des Ritus im Märchen: Die Uminterpretation des Ritus ist häufiger zu finden als die völlige Übereinstimmung. Dabei werden beliebige Elemente des Ritus durch ein anderes ersetzt und ein Formwandel vollzogen. Hierbei lässt sich ein Prozess der Wandlung eines Volkes nachvollziehen und oft sind die ursprünglichen Grundlagen nicht mehr ersichtlich. 9. Die Umwertung des Ritus: Die Umwertung des Ritus stellt einen Sonderfall der Uminterpretation dar. Hierbei wird der Ritus im Märchen ins Gegenteil verkehrt: diese Feststellung „zeigt, daß ein Sujet nicht evolutionär aus einer direkten Widerspiegelung der Realität hervorgeht, sondern auf dem Wege der Negation dieser Realität. Der Stoff entspricht dem Gegenteil der Realität.“ (S. 23) 10. Märchen und Mythos: Neben dem Ritus ist der Mythos eine weitere Erscheinungsform der Religion und somit eine mögliche Quelle des Märchens. Propp versteht unter Mythos „eine Erzählung von Gottheiten oder göttlichen Wesen […], an deren tatsächliche Existenz ein Volk glaubt.“ (S. 26) Der Form nach sind sich Mythos und Märchen gleich, lediglich in ihrer gesellschaftlichen Funktion unterscheiden sie sich. „So liefern diese Mythen häufig den Schlüssel zum Verständnis des Märchens.“ (S. 27) Für europäische und nicht-asiatische Texte sieht Propp in amerikanischen, ozeanischen und afrikanischen Mythen das wichtigste Material, setzt jedoch als weitere Voraussetzung, „daß man das Märchen sowohl mit Mythen primitiver Völker im Vorklassenzustand als auch mit Mythen aus den Kulturstaaten des Altertums vergleichen muß.“ (S. 30) 11. Märchen und primitives Denken: Zwar findet sich die Grundlage von Vorstellungen im Märchen in der historischen Vergangenheit, doch gehen andere Situationen und Bilder nicht auf eine unmittelbare Realität zurück. Diese Situationen und Bilder können auf primitives Denken zurückgeführt werden. 12. Genese und Geschichte: Das Anliegen von Propp ist eine genetische Untersuchung, die stets historisch und mit Prozessen verbunden ist. Da sich die Entwicklung einiger Prozesse nicht immer eindeutig nachvollziehen lässt, können einige Motive ausführlich, andere weit weniger genau bearbeitet und erläutert werden. 13. Methode und Material: Nach Propp liegt die Schwierigkeit seiner Arbeit in der Erfassung des Materials, denn Folklore ist nicht nur ein internationales Phänomen, sondern kann auch durch „künstliche Grenzziehung“ (S. 33) fehlerhaft eingeschränkt werden. Für seine Arbeit heißt das, dass „das Material nicht in vollem Umfang ausgeschöpft ist“ (S. 34), da jedoch „die wiederkehrenden Elemente des Zaubermärchens“ (S. 34) aufgezeigt werden sollen, stellt sich das nicht als problematisch dar. „Das gesamte Material teilt sich in Material, welches Gegenstand der Erklärung ist – das ist für uns vor allem das Märchen –, und Material, welches eine Erklärung liefert. Alles andere ist Kontrollmaterial.“ (S. 34) 14. Das Märchen und die ihm nachfolgenden Formen: Dem Märchen gehen Riten, Mythen, Formen und gewisse gesellschaftliche Institutionen dem Märchen voraus, jedoch ist „die Folklore […] nicht im Märchen [erschöpft]“ (S. 35). Zahlreiche andere literarische Erzeugnisse (bspw. Sagen, Ilias, Heldenepos) lassen sich jedoch wiederum auf das Märchen zurückführen. 15. Perspektiven: Der bisherigen Meinung hält Propp entgegen, dass das Märchen aus gewissen Elementen des primitiven gesellschaftlichen und kulturellen Lebens besteht. Noch unbeantwortet sind hingegen die Fragen, warum sich erzählt worden ist und wie sich das Märchen als erzählendes Genre entwickelte. Seine Arbeit untersucht vorrangig russische Märchen, da das Märchen wie seine Motive international sind und sich das russische Märchen „durch große Vielfalt und durch Reichtum […], durch eine ungewöhnlich künstlerische Form und gute Überlieferung“ (S. 37) auszeichnet. In diesem Sinne ist seine Arbeit „eine vergleichend-historische Folklorestudie, für die das russische Material die Ausgangsbasis bildet.“ (S. 37)

Kapitel X: Das Märchen als Ganzes: 1. Die Einheit des Zaubermärchens: Die diesem Kapitel vorangegangene Untersuchung betrachtete die Kompositionsbestandteile des Märchens, die gleich sind für verschieden Sujets. Diese „gehen folgerichtig auseinander hervor und bilden ein Ganzes.“ (S. 451) Viele Märchenmotive sind auf „verschiedene soziale Institutionen“ (S. 451) zurückzuführen, wobei der Initiationsritus von besonderer Bedeutung ist, da er „die älteste Grundlage des Märchens ist.“ (S. 452) Wichtig sind weiterhin die Vorstellungen einer jenseitigen Welt. Diese beiden Zyklen, Initiationsritus und Todesvorstellung, stellen die Hauptelemente des Märchens dar, dabei geraten die Initiationsriten gegenüber den Vorstellungen vom Tod tendenziell schneller in Vergessenheit. Propps Analyse hat gezeigt, dass die kompositionelle Einheit des Märchens „in der historischen Realität der Vergangenheit [liegt].“ (S. 452) Dabei bildet das Märchen nicht nur die Grundlage für neue literarische Weiterbildungen, sondern nimmt umgekehrt immer wieder Elemente der Realität in sich auf und prägt sich so weiter aus. Die weitere Entwicklung des Märchens zeichnet sich dadurch aus, dass seine Komposition, selbst nach Personenaustausch, stets beibehalten wird. Propp fasst zusammen: „Wir sehen, daß das Zaubermärchen aus Elementen besteht, die auf Erscheinungen und Vorstellungen zurückgehen, welche in der Vorklassengesellschaft bestanden.“ (S. 454) 2. Das Märchen als Genre: Offen geblieben ist bis jetzt die Frage nach der „Tatsache der Entstehung des Zaubermärchens“ (S. 454). Sind die in Mythos wie Märchen geschilderten Ereignisse zunächst „in stilisierter Form dramatisch aufgeführt“ (S. 454) worden, entwickelten sich bald Erzählungen. Indem sich Propp auf George A. Dorsey bezieht, erläutert er, dass sogenannte primitive Völker Tänze stets mit einer Ursprungsgeschichte begleiteten, also in einen kulturellen Ritus eingebettet waren. So werden „die Erzählungen […] verständlich nur aus der Analyse des sozialen Lebens“ (S. 457). Das Zaubermärchen schließlich ist „durch die Gentilordnung auf derjenigen Stufe ihrer Entwicklung bedingt, als deren wir beispielhalber die von Dorsey, Boas u.a. erforschten amerikanischen Stämme nahmen.“ (S. 458) Die Entwicklung des Märchens ist der Übergang von Mythos in Märchen, der zusammenhängt mit dem Verschwinden der Ordnung und der Loslösung vom Ritual. Das heißt: Das Märchen geht aus dem Mythos hervor und hat seine religiöse Funktion verloren, die geheiligten Sujets werden im Märchen (bereits sehr früh) ‚profanisiert‘.


Seinen Anspruch, neue Zusammenhänge herzustellen, erfüllt Propp mit seinem Werk. Er erläutert den signifikanten Zusammenhang von Mythos und Märchen sowie die Relevanz von Initationsritus und Todesvorstellungen. Er stellt heraus, dass Erzählungen und soziales Leben untrennbar miteinander verbunden sind, das Erzählen von Geschichten also gesellschaftlich bedingt sind.