Kittler (1985): Romantik – Psychoanalyse – Film

Kittler, Friedrich: „Romantik – Psychoanalyse – Film: Eine Doppelgängergeschichte.“ In: Hörisch, Jochen / Tholen, Georg Christoph (Hrsg.): „Eingebildete Texte. Affairen zwischen Psychoanalyse und Literaturwissenschaft“, S. 118-135.
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In Anschluss an Otto Rank untersucht Kittler (1943-2011) die Doppelgängergeschichte in drei Schritten und in Bezug zur Psychoanalyse Freuds. Der Romantiker Adalbert von Chamisso (1781-1838) steht zunächst im Fokus. Auf der Grundlage, „daß er einen Doppelgänger hat“ (S. 118), heißt es psychoanalytisch gedeutet: „Nur Schriftsteller, die von ‚schweren Nerven- oder Geisteskrankheiten‘ heimgesucht sind, werden es auch von Doppelgängern.“ (S. 119) Daneben wird in der Psychoanalyse im Unbewussten Realität, was zunächst als phantastisch galt, nämlich das Duell zwischen Wahrem und Lügenhaftem. Offen geblieben ist, auch bei Rank, warum der Doppelgänger als solcher erst in der Romantik auf dem Papier, „am Schreibpult“ (S. 120) auftaucht.

1828 schreibt Guy de Maupassant vom Doppelgänger, 1889 wird es tatsächlich Realität. Er psychiatrisiert sich selbst und „berichtet von einem halluzinierten Schreibtischdiktator“ – es bleibt jedoch noch immer offen, „warum das Double ausgerechnet am Schreibtisch auftauchte“ (S. 121). Die Antwort findet sich in Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) von Goethe (1749-1832): Der Doppelgänger kann als solcher existieren, weil an ihn geglaubt wird, weil er literarisch als solcher geschaffen und beschrieben worden ist. „Klarer kann es kaum gesagt werden, daß klassisch-romantische Doppelgänger den Büchern als solchen entstammen“ (S. 122). So wird auch Goethes Meister zum der Doppelgänger, nämlich zu dem seiner Leser, indem er keine Eigentümlichkeiten besitzt, keine Individualität.

La nuit de décembre (1835) von Alfred de Musset (1810-1857) konfrontiert ebenfalls den Dichter mit seinem Doppelgänger. Der Doppelgänger als optische Halluzination in der Literatur verschwindet, mit der Industrialisierung und neuen Medien tritt der „Doppelgänger namens Selbst, dieses poetisch-philosophische Phantasma“ (S. 125) auf. Neben der Speicherung des Körpers zeigt das neue Medium Film, vor allem der Stummfilm, reihenweise Doppelgänger, wenn lediglich die Schatten des Körpers des Gefilmten festgehalten werden. Zu den ersten Gefilmten zählen die Hysterikerinnen, mit denen sich vor allem Freud beschäftigte – wenn er selbst sich auch nicht mit dem Medium Film auseinandersetzte. Mit Hanns Heinz Ewers‘ Stummfilm Student von Prag (1913) wird begonnen, sich psychologischer Probleme im Film anzunehmen. Das Medium Film kann zeigen, was Literatur nicht in Worte zu fassen vermag.

Um 1900 endet die Ära des romantischen Doppelgängers (vgl. Todorov, Einführung in die fantastische Literatur). „Aber weil Geister bekanntlich nicht sterben, ist neben der Literatur eine neue Phantastik entstanden.“ (S. 130) Nicht nur erscheint nun im Kino real, was in Dichtung imaginär geblieben ist, vielmehr braucht es nun kein besonders gebildetes Publikum mehr. Trotzdem finden sich in der Literatur noch Beispiele, die sich von der Romantik abgegrenzt und filmischen Techniken zugewandt haben, etwa Der Golem (1915) von Gustav Meyrink (1868-1931) oder Gravity’s Rainbow (1973) von Thomas Pynchon (*1937): „Mit Meyrink präsentifiziert Literatur zum erstenmal hirnphysiologische Entsprechungen von Filmabläufen. Real ist nicht die Seele, sondern das Zelluloid. Traumtechnik und Kinodarstellung stehen einander viel näher, als Otto Rank sich 1914 träumen läßt.“ (S. 133) 1916 erscheint von Hugo Münsterberg (1863-1916) die erste ‚kompetente‘ Theorie des Films, womit die neue Wissenschaft der Psychotechnik, später Filmtheorie, begründet wird.


In seine Untersuchung zum Doppelgänger bezieht Kittler die Psychoanalyse ein und untersucht den Zusammenhang zur modernen Literatur. Es bietet sich an, moderne Literatur und Psychoanalyse parallel zu betrachten wegen der Betrachtung der Seele als Instanz dieser beiden. Dabei bleibt jedoch die thematisierte fehlende Unterscheidung von Fantasie und Realität fragwürdig. Äußerst gelungen und hervorragend argumentiert ist der Zusammenhang vom Motiv des Doppelgängers mit der Entwicklung der Filmtheorie, wodurch der Doppelgänger auf Metaebene gleichermaßen eine Figur für die Überleitung von Literatur zum Film, also zum Medienwechsel wird. Der Doppelgänger, so Kittler, lebt weiter, obwohl er seinen ‚Tod‘ in der Romantik hatte. Von besonderem Interesse ist seine These, da sich bis heute viele Doppelgängerfiguren beziehungsweise die Thematik eines Doppelten/Doppels im Medium Film nachweisen lassen. Für die Forschung interessant ist die Parallele zum Thema Lüge.