Lachmann (1990): Gedächtnis und Literatur

Lachmann, Renate: „Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne.“ Frankfurt am Main 1990. (Hier: „Der Doppelgänger als Simulakrum: Gogol‘, Dostoevskij, Nabokov“, S. 463-488.)
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Über die gemeinsame Strategie der Doppelung sind die Texte von Gogol, Dostoevskij und Nabokov miteinander verbunden, Die Nase (1836) bildet dabei den Prätext. Die auf diesen Text folgenden Erzählungen werden immer komplexer und extremer – bis zu einer Krise, „die die Doppelungsfigur und ihre literarische Tradition selbst in Frage stellt“ (S. 463).

Die Geschichte der erzählenden Literatur nennt Lachmann die Geschichte der Spaltungen und der Zähmung von Doppelwesen. Im Doppelgänger wird der anthropologische Grundmythos vom Menschen als Doppelwesen in besonderem Maß exponiert. So stellt jegliche Literatur die Archaik der Spaltungs- und Doppelungsmythen und ihre Vorformen aus; die Zeichen der Dopplung, wie Spiegel (als metonymische Metapher) und Schatten (als metaphorische Metonymie), werden dabei weitergetragen. Die Persönlichkeit des Doppelgängers ist gekennzeichnet durch Phantasma und Simulakrum. In der Romantik, unter anderem bei E.T.A. Hoffmann und Edgar Allen Poe, wird die archaische Konzeption des Menschen als Doppelwesen psychologisch motiviert, oder aber sozial, wie bei Gogol und Dostoevskij. Tiefenmotivationen der Psychoanalyse oder Tiefenpsychologie „revozieren ihrerseits archaische Strukturen“ (S. 466). Literatur ist gekennzeichnet durch ihre eigene Doppelung und Spaltung, so in der Doppelgängerei von Autor und implizitem Autor oder von Autor und Leser.

Die Nase von Gogol wendet sich ins Groteske, indem die Nase zum Doppelgänger wird. Der Innen-Außen-Dualismus wird auf den Körper projiziert. Die Nase fungiert als Maske und steht so für Nichtidentität und Ich-Exzentrik, vergleichbar mit der Karnevalshandlung. Gleichzeitig greift Gogol die romantische Tradition auf, so zum Beispiel „findet [das romantische Spiegel- und Schattenikon] ein ironisches Pendant in der usurpatorischen Abspaltung: die Nase spiegelt nicht, sondern usurpiert die Identität.“ (S. 470) Der „Nase-Mensch“ wird parodistisch, das Doppelgängermotiv ist nur noch Ornament.

Der Doppelgänger (1846) von Dostoevskij bezieht sich auf Die Nase als textuelle Doppelgängerei und behält die grotesken Züge bei. Die Doppelgängerei Dostoevskijs zeichnet sich vor allem aus durch das Spiel „mit den älteren Motiven, Insignien und Doppelgängerhandlungen“ (S. 473), findet sich jedoch auch in der Figurenkonstellation wieder. Vor allem beim älteren und jüngeren Goljadkin – ersterer hält zweiten für sein Spiegelbild – lässt sich ein Narziss-Motiv vermuten, und beide werden ununterscheidbar, wenn sie einander zum Trugbild werden. Lachmann liest Dostoevskijs Text als „Texte […] der literarischen Vorgänger“ und als „das Abschreiben als Weiter- und Wiederschreiben durch einen literarischen Nachgänger“, die erzählten Schreibhandlungen zusätzlich „als die Entfaltung einer Semantik […], die die Doppelung affiziert und der Original/Kopie-Passage eine neue Nuance verleiht“ (S. 476). In Dostoevskijs späteren Texten geht es dann weniger um Verdoppelungs-, sondern mehr um Spaltungsprozesse und die Multiplizierung von Doppelungen. Darüber hinaus findet sich die Doppelgängerei in seinem Gesamtwerk, denn darin zeigen sich Figuren, die sich zueinander wie Doppelgänger verhalten.

Nabokovs Romane setzen sich ironisierend und plagiierend mit der Doppelgänger-Thematik auseinander, Einladung zur Enthauptung (1938) nimmt dabei eine Sonderstellung ein: „Dieser [Roman] erscheint vielmehr als Zügelung der Mythen- und Motivwucherung, wie sie die Vorgängerliteratur […] zugelassen hat“ (S. 480). Nabokov greift hier auf den gnostischen Grundmythos von Um- und Wiederschrift zurück, den er narrativ mittels Doppelgängerstrategien entfaltet. Verzweiflung (1936) „ist die pseudokriminalistische Zerebralisierung einer Doppelgängergeschichte, die letztlich keine ist. Thema ist die Opposition von Unverwechselbarkeit und Ununterscheidbarkeit“ (S. 483), sowie Ähnlichkeitskritik/-krise. Letztere spiegeln sich im gescheitert inszenierten Narziss-Mythos, die die literarische Doppelgängerei demaskiert.

Letztlich ist festzuhalten: „Die Doppelung erweist sich als Modus der Repräsentation des Individuums, in dem dieses als etwas, was es nicht ist oder als was es sich nicht zeigt, erscheint (die andere Hälfte, das Latente: Seele, Unbewußtes), dessen es jedoch bedarf.“ (S. 488) Die Doppelung ist zu begreifen als mimetische Handlung des Ich, als Kommunikation mit dem Trugbild seiner selbst, „in der das Ich sich zugleich bestätigt und aufgibt“ (S. 488). Der Doppelgänger ist Simulakrum, selbstgenügsame Selbstrepräsentation, stellt die Teilbarkeit des Individuums aus. Diese Teilbarkeit als Mangel verweist auf das ideale Streben nach Unteilbarkeit, „eine höhere Stufe der Individuation“ (S. 488).


Anhand der Romane von Gogol, Dostoevskij und Nabokov legt Lachmann ihre Theorie zum Doppelgänger als Simulakrum dar. Ihr intertextueller Ansatz thematisiert in bemerkenswerter und fortführungswürdiger Weise die Doppelgängerei auf metafiktionaler Ebene, liefert also den Ansatz interessanter Forschungsfragen zu Fiktionalität und Fiktivität sowie Fragen nach Autor und Leser.