Bausinger (1989): Zu Sinn und Bedeutung der Märchen

Bausinger, Hermann: „Zu Sinn und Bedeutung der Märchen.“ In: „Jacob und Wilhelm Grimm zu Ehren.“ Hitzeroth 1989, S. 13-33. Unter: http://hdl.handle.net/10900/47768 [Zuletzt abgerufen am 06.05.2014 um 08:32 Uhr.]
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In seinem Aufsatz stellt Bausinger die Frage nach Sinn und Bedeutung der Märchen, die, so seine These, nicht zeitlos, sondern im Gegenteil, zeitgebunden ist. Die folgende Argumentation orientiert sich an den gegebenen gegenwärtigen historischen Umständen, die geprägt sei von Paradoxien („Welt der Entzauberung“ vs. „Welt der lauten Nüchternheit“, S. 13). Somit mache die „Provokation des Märchens“ (S. 13) ihre Perfektion aus.

Als paradox erweist sich auch das „stille Bild des Märchens“ und seine „grelle Konjunktur“ (S. 13), die in verschiedenen Medien repräsentiert wird. Neben medialer Bedeutung ist das Märchen jedoch gleichzeitig in der Forschung präsent:

Die Faszination des Märchens liegt in der Spannung zwischen dem klaren, durchsichtigen und leicht verständlichen Verlauf der Geschichte und dem Unerklärten, ja Unerklärlichen, das die Geschichte abrückt von der banalen Wirklichkeit. Märchen sind einfache Geschichten, die über sich hinausweisen.

S. 14

Die Frage nach dem Wesen des Märchens hat eine lange Tradition; so suchten schon Jacob und Wilhelm Grimm, deren Sammlung von Märchen von „poetischer Selbständigkeit“ (S. 15) zeugt, dieses „in einer fernen Vergangenheit“ (S. 14), in altem Göttermythos. Resultat ihrer Märchensammlung wiederum seien Interpretationen der Märchen gewesen, die sich oftmals, so Bausingers Kritik, als „bornierte Germanisierung des internationalen Märchengutes“ (S. 15) erwiesen. Nach Bausinger seien Märchen „Sinnbilder; aber sie ‚meinen‘ nichts Bestimmtes.“ (S. 16) Das heißt: Märchen lassen durchaus Interpretationen zu, die Gefahr besteht jedoch in einseitiger und ungenauer Auslegung, denn als Symbol lässt das Märchen „durchaus verschiedenartige Deutungen“ (S. 16) zu. Daraus ergibt sich ein „Unbehagen an allen ‚systematischen‘ Deutungen des Märchens“ (S. 16), das Bausinger beispielhaft an Bruno Bettelheims Deutungen expliziert.

Im Folgenden untersucht Bausinger vier Annäherungen an „Substanzen für die Erkenntnis der Bedeutung  d e s  Märchens“ (S. 17). Als Grundvoraussetzung nennt er das Ernstnehmen der Geschichten „so, wie sieht erzählt wurden“ (S. 17), nicht in transponierter Bedeutung. Vor dieser Untersuchung nennt Bausinger zwei Kritikpunkte am Märchen, die mit den Annäherungen im Zusammenhang stehen: 1. Vorwurf der Grausamkeit. 2. Kultivierung von „Gemütswerte[n] einer überholten Vergangenheit“ (S. 18).

(1) Angst und Aufbruch: Grausamkeiten als Thema im Märchen führen nach Bausinger weder zur Erzeugung von Angst noch dazu, dass sie ignoriert wird. Es verhält sich gegenteilig, denn indem Angst „ernst genommen wird, […] zeigen [sie] exemplarisch, daß Angst überwindbar ist“ (S. 18). Notwendig zur Überwindung ist der Aufbruch, der erste Schritt. Aller Kritik an Ernst Bloch entgegen weist Bausinger auf dessen These, das Märchen sei einer der „Entwürfe in die Zukunft“ (S. 18): „Die Grundkonstellation ist das Weggehen, das ist immer ein Aufbrechen – und auch ein Ausbrechen.“ (S. 19)

(2) Krankheit und Tod: Obgleich sich Märchenfiguren Hindernissen ausgesetzt sehen, sind Krankheit und Tod im Märchen kaum thematisiert. Treten körperliche Schädigungen auf, so „ohne Andeutung körperlicher Schmerzen oder einer psychischen Belastung“ (S. 20) (vgl. Lüthis Begriff der Flächenhaftigkeit), ohne dass es ein „wirkliches Problem“ (S. 21) darstellt und Genesung ist tendenziell eher als (plötzliche) Verwandlung geschildert. Abgründe können im Märchen überwunden werden – das macht einen Teil der „Trostfunktion“ (S. 22) des Märchens aus.

(3) Phantasiewelt und Wirklichkeit: Zwar zeichnen sich Märchen der populären Meinung nach durch Unwirklichkeit aus, die Tatsache jedoch, dass Märchen Hilfsfunktionen übernehmen können, lassen den Schluss zu, es ließe sich ein „Bezug zwischen Märchen und Wirklichkeit herstellen“ (S. 22). In der sogenannten Märchenwelt, vor allem der schriftlichen Erzähltradition, hat Gegenwärtiges keinen Platz.[1] In mündlicher Erzähltradition hingegen ist das Einbauen einer „politischen und sozialen Wirklichkeit“ (S. 23) durchaus präsent. Der wichtigste Bezug zwischen Phantasiewelt und Wirklichkeit liegt nach Bausinger in der symbolischen Vermittlung der Wirklichkeit im Märchen, in denen Konflikte und Situationen des alltäglichen Lebens verhandelt werden.

(4) Moral und Glück: Obwohl Märchen bevorzugt mit Moral assoziiert werden, zeigt sich bei näherem Hinsehen: „Moral ist nicht unbedingt eine Erfolgsgarantie.“ (S. 26) Zwar thematisiert das Märchen moralische Forderungen, jedoch verhindert die Nichteinhaltung nicht das Erreichen von Glück. Für Bausinger ist der „Sinn  d e s  Märchens“ (S. 27) und seine eigentliche Moral das Glück: „Märchen sind immer vom Glück her definiert“ (S. 28). So sei das Märchen eigentlich eine Geschichte vom Glück, die die Hinführung zu diesem und involvierte Prozesse aufzeigt.

Im Märchen wird letztlich, so Bausingers Argumentation, Mögliches gezeigt, nicht Wirkliches. Das Märchen präsentiert Facetten des Möglichen, dem wir uns im Wirklichen zu oft verschließen. Die besondere Bedeutung des Märchens erkennt Bausinger in der Verbindung einer konsequenten ästhetischen Ordnung mit „der sicheren Anmutung, daß diese Ordnung  n i c h t  ernst zu nehmen ist.“ (S. 29)


Bei Bausingers Untersuchung stehen wieder Zeitgebundenheit und historischer Kontext im Vordergrund. In seinem kurzen Text stellt er zwar die Frage nach der Bedeutung von Märchen und stellt die Verhandlung des menschlichen Glücks zentral, daneben jedoch stellt er nichts Neues fest, wenn er erkennt, dass das Märchen Facetten des Möglichen zeigt.


[1] Vgl. Brüder Grimm: Sie haben „die Märchen bewußt von ihrer Zeit und Realität abgerückt“ (S. 23).