Propp (1972): Morphologie des Märchens

Propp, Vladimir: „Morphologie des Märchens.“ München 1972.
Glitzerndes Licht | Prosa & Papier

Vorwort: Propps Anliegen seiner vergleichenden Studie ist eine sogenannte Morphologie des Märchens zu erarbeiten, also die Form von (in diesem Fall) Zaubermärchen zu analysieren und auf dieser Grundlage Strukturgesetzmäßigkeiten abzuleiten. Dazu zeigt er die grundlegenden Elemente auf.

1. Zur Geschichte des Problems: Der bisherigen Forschung habe nach Propp aufgrund problematischer Forschungsmethoden „exakte Beobachtungen, Analysen und Schlußfolgerungen“ (S. 11) sowie eine systematische Beschreibung gefehlt. Propp sieht (1) die „richtige Klassifizierung“ (S. 13) und (2) die systematische Beschreibung des Märchens als wichtigste Voraussetzungen zur Märchenforschung an. Zumeist sind diese Bereiche in der Forschung jedoch nicht verbunden worden. Ungeklärt bleibt, auch nach der vorliegenden Untersuchung, die Frage nach dem Ursprung des Märchens; deren Beantwortung liegt für Propp in der Zukunft.

2. Methode und Quellenmaterial: Für die deduktive Untersuchung zieht Propp Zaubermärchen heran. Es zeigt sich: Märchengestalten tun oft ein und dasselbe, und ihr Handeln ist das für das Märchen Wichtigste, variabel ist dabei nur die Art und Weise der Funktionsausübung. Unter Funktion „wird hier eine Aktion einer handelnden Person verstanden, die unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für den Gang der Handlung definiert wird“ (S. 27), dabei ist die Zahl an Funktionen begrenzt und ihre Reihenfolge exakt festgelegt. In der Gegenüberstellung von einheitlicher Struktur und Vielfalt an Bildern und Formen liegt der Doppelcharakter des Zaubermärchens. Propps Hauptthese ist, dass „sich für sämtliche Zaubermärchen ein einziges Grundprinzip [ergibt]“ (S. 28), also: „Alle Zaubermärchen bilden hinsichtlich ihrer Struktur einen einzigen Typ.“ (S. 29)

3. Die Funktionen der handelnden Personen: Propp kennt 31 Funktionen. Dabei entwickelt sich eine Funktion konsequent aus der anderen und keine Funktion schließt die folgende aus. Funktionen treten oftmals paarweise oder in Gruppen auf, können aber auch isoliert auftreten. Sie sind die Grundelemente des Märchens, aus denen sich die Handlung entfaltet.

4. Assimilation und morphologische Doppelbedeutung einer Funktion: Funktionen sind nicht nur unabhängig von der Gestalt zu bestimmen, sondern auch unabhängig von der Art des Vollzugs. Die Möglichkeit der identischen Realisierung unterschiedlicher Funktionen hängt von wechselseitigen Einflüssen ab und wird von Propp Assimilation der Art und Weise des Vollzugs der Funktionen genannt. Die morphologische Doppelbedeutung einer Funktion liegt vor, wenn eine Funktion zwei Bedeutungen bekommt.

5. Einige weitere Märchenelemente: A. Hilfselemente zur Verbindung der einzelnen Funktionen: Das Märchen hat „ein ganzes System von Nachrichtenübermittlungen“ (S. 71), durch das die Funktionen im Märchen verbunden werden können. Es gibt diverse Erscheinungsformen, die jedoch ein Merkmal gemein haben: „Hier erfährt eine Gestalt irgend etwas von einer anderen Gestalt, wodurch die Verbindung zwischen zwei aufeinanderfolgenden Funktionen hergestellt wird.“ (S. 72) B. Hilfselemente bei Verdreifachungen: Dreimalig wiederholt werden können einzelne Details attributiven Charakters, Einzelfunktionen, Funktionspaare und -gruppen sowie ganze Sequenzen. Dazu müssen manchmal zusätzliche Elemente eingefügt werden, wie die Erprobung eines Zaubermittels oder die Gestalt des Schenkers. C. Motivierungen: Motivierungen als verschiedene Beweggründe oder Absichten der Gestalten sind die variabelsten und unbeständigsten Märchenelemente und wahrscheinlich erst in jüngerer Zeit als Erzählelement hinzugefügt worden. Identische oder ähnliche Handlungen können unterschiedlich motiviert werden, das Gefühl eines bestimmten Mangels hingegen wird selten motiviert.

6. Die Verteilung der Funktionen auf die handelnden Personen: Viele Funktionen lassen sich logisch in bestimmte Wirkungskreise zusammenfassen. Die sieben Handlungskreise sind der (1) des Gegenspielers (Schadenstifters), (2) des Schenkers (Lieferanten), (3) des Helfers, (4) der Zarentochter (der gesuchten Gestalt), (5) des Senders, (6) des Helden, (7) des falschen Helden. Dabei können (1) Handlungskreis und Gestalt völlig kongruent sein, (2) mehrere Handlungskreise einer handelnden Person zugehören, (3) ein Handlungskreis auf mehrere Gestalten verteilt sein. Es gibt drei Kategorien von Helfern: (1) Universelle Helfer (können sämtliche fünf Grundfunktionen des Helden ausführen), (2) Partielle Helfer (können bestimmte Funktionen ausführen), (3) Spezielle Helfer (können nur eine Funktion ausführen). Öfters kommt der Held ohne Helfer aus und übernimmt dann dessen Funktion, ist „dann sozusagen sein eigener Helfer“ (S. 82).

7. Formen der Einbeziehung neuer Personen in den Gang der Handlung: „Für jede Kategorie von Gestalten gibt es spezifische Formen ihres Auftretens im Märchen und bestimmte Arten ihrer Einbeziehung in den Gang der Handlung.“ (S. 84) Im Normalfall (1) tritt der Gegenspieler unvermittelt und zweimal im Laufe der Handlung auf, (2) der Schenker unerwartet, (3) der übernatürliche Helfer wird als Geschenk eingeführt, (4) Sender, Held, falscher Held und Zarentochter treten bereits in der Ausgangssituation auf. Daneben gibt es Abweichungen, so können beispielsweise bereits „sämtliche Gestalten durch die Ausgangssituation in das Märchen eingeführt werden“ (S. 84). Die zwei grundlegenden Ausgangssituationen beziehen „den Suchenden mit seiner Familie […] ein“, oder aber „das Opfer mit Familie“ (S. 85). Manchmal wird die Ausgangssituation episch ausgeweitet, oft aber steht die Ausgangssituation im Kontrast zum Unglück, da sie ein außergewöhnliches Wohlergehen beinhaltet.

8. Zu den Attributen der handelnden Personen und deren Bedeutung: Während die Funktionen im Märchen gleich bleiben, werden die einzelnen, leicht austauschbaren Märchenfiguren stets durch neue Gestalten verdrängt, bedingt durch Einflüsse anderer Völker, Religion oder die historische Wirklichkeit. Die Attribute einer Gestalt sind drei, (1) Äußeres und Nomenklatur, (2) besondere Merkmale ihres Auftauchens im Märchen, (3) Wohnsitz. Die häufigsten Formen bilden den Kanon, es gibt einen internationalen Kanon, daneben aber auch nationale Ausprägungen und Lokalformen.

9. Das Märchen als Ganzes: A. Verbindungsarten einzelner Erzählungen: Das Märchen bestimmt Propp als eine Sequenz von Funktionen, die in sechs verschiedenen Varianten kombiniert werden können. B. Beispiel einer Analyse: Mithilfe seiner Untersuchungen gelingt es Propp nun, jedes beliebige Märchen objektiv zu untersuchen. C. Zur Frage der Klassifizierung: Das Zaubermärchen definiert Propp als „eine Erzählung, die auf einer regelmäßigen Aufeinanderfolge der angeführten Funktionen in verschiedenen Formen beruht, wobei in einzelnen Fällen bestimmte Funktionen fehlen, andere mehrmals wiederholt werden können.“ (S. 98) Er kennt vier Märchentypen, der Grundtyp aller Zaubermärchen jedoch ist ein Märchen mit zwei Sequenzen. D. Über das Verhältnis einzelner Strukturformen zum Bau im Ganzen: Bei Betrachtung der Strukturformen kommt Propp zu dem Schluss, dass das Zaubermärchen lediglich über eine einzige einheitliche Struktur verfügt. Im Märchen spiegelt sich die Wirklichkeit nur indirekt, vor allem die menschlichen, vom historischen Kontext geprägten, Glaubensvorstellungen. Propp vertritt die Meinung, dass sich bestimmte Vorstellungen, zum Beispiel die von der Seelenwanderung, „unabhängig voneinander überall auf der Welt herausbilden [konnten].“ (S. 106) Der Märchenerzähler kann sich in Bezug zu den Funktionen im Märchen an gewisse Normen halten, seine schöpferische Freiheit bleibt ihm jedoch (1) bei der Auswahl der Funktionen, (2) bei der Wahl der verschiedenen Möglichkeiten zur Realisierung einer Funktion, (3) bei der Wahl der Nomenklatur und der Attribute der handelnden Personen sowie (4) bei der Wahl der sprachlichen Mittel. E. Das Verhältnis von Komposition und Stoff bzw. Stoff und Komposition: Die Komposition des Märchen wird bestimmt durch sämtliche Prädikate, der Stoff (das Sujet) durch sämtliche Subjekte, Objekte und weitere Satzteile, also: „Ein und dieselbe Komposition kann verschiedenen Sujets zugrunde liegen.“ (S. 113) So sind nach Propp Sujets von Zaubermärchen morphologisch und genetisch isoliert analysierbar.


Schlussbemerkung: Propps Analyse hat gezeigt, was Veselovskij vorausgesehen hat, unter anderem: „das Phänomen der Formelhaftigkeit und der ständigen Wiederkehr wird sich überall zeigen.“ (S. 116)

Die strukturalistische Arbeit von Propp stellt eine völlig neue Methode in der Märchenforschung dar und orientiert sich an naturwissenschaftlichen Untersuchungen. Seine herausragende Hauptthese ist dabei, dass es der Struktur nach im Prinzip nur ein Märchen gibt, die mittels verschiedener Funktionen lediglich variiert wird. Zudem erkennt er die Bedeutung der Handlung beziehungsweise des Handeln im Märchen. Seine herausragende Analyse liefert ausgezeichnete Anstöße für die folgende Märchenforschung.