Jolles (1982): Einfache Formen

Jolles, André: „Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz.“ 6., unveränderte Auflage. Tübingen 1982. (Hier: Einführung, S. 1-22; Märchen, S. 218-246; Ausblick, S. 262-268.)
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In seinem Buch untersucht Jolles die ‚einfachen‘ literarischen Formen Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen und Witz vor und betrachtet sie im Ansatz und vereinzelt vergleichend.

In der Einführung thematisiert Jolles Literatur, Literaturwissenschaft und literarische Formen: I. Demnach sei Literaturwissenschaft dreifach gerichtet: Sie habe eine (1) ästhetische, der Schönheit nach gedeutete, (2) eine historische, dem Sinn nach gedeutete, und (3) eine morphologische, der Gestalt nach gedeutete, Aufgabe. Obgleich jeder Aufgabe eine eigene Methode zugewiesen wird, bilden sie eine Totalität. Folgend legt Jolles die verschiedenen Ausrichtungen der vorangegangen Epochen dar; so sei ein Teil der Literaturwissenschaft des 18. Jahrhunderts vor allem ästhetisch eingestellt, ein anderer sucht nach dem Sinn des Kunstwerks, die Gestalt sei jedoch unabhängig von Historie oder Individualität zu betrachten. II. Gegenstand und Anfang der Forschung sei die Gestalt der literarischen Erscheinung, für die die Untersuchung der Sprache den Ausgang bildet. Wie, wann und wo kann und wird Sprache also ein Gebilde, ohne aufzuhören, Zeichen zu sein? Die sich an diese Frage anschließenden methodischen Aufgaben bestehen in (1) der Betrachtung von Grammatik, Syntax und Bedeutungslehre respektive Stilistik, Rhetorik und Poetik, (2) der Beschäftigung mit den aus der Sprache hervorgegangenen Formen, den sogenannten einfachen Formen, die bisher von der Literaturwissenschaft stiefmütterlich behandelt worden seien. III. „Wie stellen wir uns Sprache als Arbeit vor?“ (S. 11) Die Arbeit kann dreigeteilt werden: (1) Erzeugen: Gruppierung und Ordnung des Gegebenen, (2) Schaffen: Umordnung vom Natürlichen zum Künstlichen, (3) Deuten: Vollendung und Lenkung der ersten beiden Arbeiten, also der Weg zur Kultur, zur Kunst. Durch die Arbeit der Sprache bekommt es in der Sprache selbst eine neue Beständigkeit: (1) alles Erzeugte, Geschaffene wird von Sprache benannt, (2) Sprache selbst ist ein Erzeugendes, Deutendes, Schaffendes durch An-, Um- und Verordnung. IV. Um ein Verständnis für die Dinge und Vorgänge in der Welt zu erlangen, muss der Mensch auf Ordnung, Gliederung zurückgreifen, muss „sondernd in [ihre Erscheinungen] eingreifen“ (S. 21). So wie der Mensch teilt, aussortiert und sich auf das Wesentliche konzentriert, den Dingen Gestalt und Form gegeben wird, so ordnet auch Sprache und gestaltet literarische Formen.

In sechs Unterkapiteln wird das Märchen als literarische Form in einem Kapitel behandelt: I. Begriff und Etymologie: „Der Gebrauch des Wortes  M ä r c h e n  als Bezeichnung für eine litterarische Form ist eigentümlich beschränkt“ (S. 218), denn dieses Wort finde sich nur im Hochdeutschen, nicht in anderen germanischen Sprachen, wie es bei beispielsweise Rätsel oder Sprichwort der Fall ist. Das Märchen als literarische Gattung wird als solches erst seit der Herausgabe der Märchensammlung der Brüder Grimm im Jahr 1812 bezeichnet. Jolles definiert das Märchen als „eine Erzählung oder eine Geschichte in der Art, wie sie die Gebrüder Grimm in ihren Kinder- und Hausmärchen zusammengestellt haben“ (S. 219) und hebt damit ihre die herausragende Rolle in Bezug zu Märchen hervor. Jolles erkennt in der Tätigkeit des ‚Sammelns‘ eine Parallele zwischen den Brüdern Grimm und Achim von Arnim, die trotz ihrer Parallelen unterschiedliche Auffassungen von Dichtung hatten. II. Sprache und Dichtung: Im Briefwechsel 1811 zwischen Grimm und von Arnim werden Natur- und Kunstpoesie diskutiert, während sich Jacob Grimm für diesen Unterschied stark mache, erkenne von Arnim diesen nicht an. An ihren Auseinandersetzungen erläutert Jolles die „Frage nach Dichtung und Sprache“ (S. 225) und die Unterscheidung von Naturpoesie und Kunstpoesie (Grimm/von Arnim) respektive von Einfachen und Kunstformen (Jolles). Jolles hält fest, dass „Jacob Grimm im Märchen eine ‚Sache‘ erkannt hat, die vollkommen sie selbst bleiben kann, auch wenn sie von anderen mit anderen Worten erzählt wird“ (S. 226). III. „Gattung Grimm“/historischer Abriss: Aus der im 14. Jahrhundert entstandenen Kunstform der toskanischen Novelle (zuerst bei Boccaccio) entstehen zwei „Abarten“ (S. 227): (1) Novellensammlung inklusive Rahmenerzählung, (2) einzelne Novelle. Die Rahmenerzählung erfährt nicht nur eine weite Verbreitung im Abendland, sondern dabei auch Änderungen, was im 1550 zu den Piacevoli notti von Giovanni Francesco Straparola führt, einer Rahmenerzählung, die an der Novelle orientiert ist, sich doch von ihr unterscheidet und die mit heutigen Begriffen als Märchensammlung bezeichnet werden kann. 1634/36 folgt Giambattista Basiles Sammlung Cunto de li Cunti (später: Pentamerone). Mit Charles Perrault beginnen für die Brüder Grimm die „eigentlichen Märchensammlungen“ (S. 229) zu Ende des 17. Jahrhunderts. Das 18. Jahrhundert ist schließlich gefüllt mit Märchenerzählungen, unterstützt von der ersten Übersetzung von Tausendundeine Nacht (1704-1708) von Galland. Nun wird das Märchen als Kunstform betrachtet, „in der sich zwei entgegengesetzte Neigungen der menschlichen Natur, die Neigung zum Wunderbaren und die Liebe zum Wahren und Natürlichen, vereinigen und als solche gemeinsam befriedigt werden können“ (S. 230). IV. Ist das Märchen eine Einfache Form? Jolles zählt die Novelle zu den Kunstformen, das Märchen zu den Einfachen Formen. Im Gegensatz zur Novelle gestalte sich das Märchen nicht nur selbst, sondern nimmt in dieser Gestalt auch die Welt in sich auf. Er hält fest: „die formende Gesetzlichkeit des Märchens dagegen ist so, daß, wo immer wir es in die Welt hineinsetzen, die Welt sich nach dem nur in dieser Form obwaltenden und nur für diese Form bestimmenden Prinzip umwandelt.“ (S. 233) V. Einfache vs. Kunstform: Den Unterschied machen Novelle und Märchen klar: Während die Welt in erster Form Einmaligkeit und Festigkeit behält, gewahrt die Welt in zweiter Form ihre Beweglichkeit und Allgemeinheit, beziehungsweise ihre „Jedesmaligkeit“ (S. 234), was nach Jolles anhand der Sprachgestaltung, Personen, Örtlichkeiten und Gegebenheiten nachzuweisen ist. Das Besondere bei der einfachen Form Märchen liegt in der Bestrebung von Dichtern, es festhalten zu wollen, in eine Fassung zu bringen; also genau das mit ihr zu machen, was ihr widerstrebt. Wenn also das Märchen schriftlich festgehalten wird, geht es einen Schritt in Richtung „Verendgültigung […] und büßt dabei etwas von ihrer Beweglichkeit, Allgemeinheit, Jedesmaligkeit ein“ (S. 237). VI. Bestimmung der Geistesbeschäftigung des Märchens: Jolles verweist auf die Eigentümlichkeit der Verbindung von Märchen und Moral, beispielhaft an Perrault: Indem die Tugendhaften glücklich werden, die Lasterhaften bestraft werden, werden Märchen zu einem Vorbild vor allem für Kinder. Tatsächlich aber zeigt die Betrachtung einzelner Märchen, hier der Gestiefelte Kater, etwas anderes. Nicht eigentlich das Moralische steht im Vordergrund und befriedigt den Leser, es ist, „daß es in diesen Erzählungen so zugeht, wie es unserem Empfinden nach in der Welt zugehen müßte“ (S. 239); das ist, was für das Märchen maßgebend ist. Soll es um eine Ethik gehen, so sei das Geschehen, nicht das einzelne Handeln zu betrachten („Ethik des Geschehens oder die naive Moral“, S. 240). Indem im Märchen passiert, was einem naiv-ethischen Gefühlsurteil als gerecht erscheint, steht es der Wirklichkeit gegenüber, da in dieser nicht jeder Verlauf diesem Gefühlsurteil gerecht wird. Also: „Man kann sagen, daß hier die Geistesbeschäftigung nach zwei Seiten wirksam ist, einerseits greift und begreift sie verneinend die Welt als eine Wirklichkeit, die der Ethik des Geschehens nicht entspricht, andererseits gibt sie bejahend eine andere Welt, in der alle Anforderungen der naiven Moral erfüllt werden.“ (S. 241) Im Märchen wird das Tragische nicht nur gezeigt, sondern auch durch die naive Moral aufgehoben, gelöst. Mit Eintritt in das Märchen „vernichten wir die als unmoralisch empfundene Welt der Wirklichkeit“ (S. 243). In dieser Märchenwelt nun wird, als scheinbares Paradoxon, das Wunderbare selbstverständlich, und Unbestimmtheit von Zeit, Ort und Personen machen die Macht dieser Selbstverständlichkeit aus. Schließlich wendet sich Jolles gegen die Popularisierung der Meinung, Märchen seien eine Zusammensetzung sogenannter Märchenmotive, vielmehr: „Märchen ist Geschehen“ (S. 245).

In seinem Ausblick fasst Jolles seine Betrachtungen zunächst zusammen und unterscheidet auf der Grundlage seiner Arbeit „Reine Einfache Form“ und „Vergegenwärtigte Einfache Form“ (S. 262). Der erste weitere, über die vorliegende Arbeit hinausgehende Schritt bestehe nun in der vergleichenden Betrachtung der dargelegten Einfachen Formen, für die unter anderem der historische Kontext einbezogen werden müsste. Der zweite weitere Schritt bestünde in der „Untersuchung von der Tätigkeit, dem Dienst und dem Bau der Sprachgebärden in jeder einzelnen Einfachen Form und wiederum der Vergleich der Sprachgebärden der verschiedenen Einfachen Formen untereinander“ (S. 265).


In seinem Buch holt Jolles nach, was bisher nicht passiert ist, nämlich der Untersuchung der einfachen Formen mehr Beachtung zu schenken. Treffend ist sein Bezug zur Kultur, jedoch scheint er den Beitrag der Brüder Grimm für die Literaturwissenschaft nicht klar genug zu erkennen, obwohl er ihre Bedeutung für die Sammlung von Märchen nennt. Jolles sieht außerdem, dass im Märchen Wirklichkeit aufgenommen und verarbeitet wird, jedoch ist es fragwürdig, ob das Märchen tatsächlich darauf reduziert werden kann, lediglich Wunschvorstellungen wiederzugeben.